Rz. 23

Hat das FG einem Beteiligten die Möglichkeit verwehrt, sich zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt überhaupt – dem Gesamtergebnis des Verfahrens[1] – zu äußern, besteht die unwiderlegliche Vermutung nach Nr. 3, dass die Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruht, z. B. wenn der Kläger versehentlich zur mündlichen Verhandlung nicht geladen war oder ein begründeter Vertagungsantrag abgelehnt wurde (Kausalitätsvermutung).[2] Damit ist die tatsächliche und rechtliche Grundlage des Urteils fehlerhaft; die Sache ist unter Aufhebung des FG-Urteils an das FG zurückzuverweisen.[3] Eine sachlich-rechtliche Überprüfung des FG-Urteils ist ausgeschlossen.[4] Denn das Gesamtergebnis des Verfahrens ist verfahrensrechtlich fehlerhaft zur Grundlage der Entscheidung geworden und die Ursächlichkeit des Verstoßes ist regelmäßig nicht überprüfbar. Eine Entscheidung nach § 126 Abs. 4 FGO (Ergebnisrichtigkeit) scheidet dann aus.[5] Die unwiderlegliche Kausalitätsvermutung gilt hier uneingeschränkt.

 

Rz. 24

Hat das FG dagegen nur bei einzelnen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten einem Beteiligten keine Gelegenheit zur Äußerung gegeben, liegt eine Gehörsverletzung nur vor, wenn diese Erwägungen – aus der maßgeblichen Sicht des FG – für die Entscheidung tatsächlich erheblich (kausal) sind.[6] Ist dies der Fall, ist das FG-Urteil grundsätzlich aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.[7] Kann es indes – vom Standpunkt des BFH aus betrachtet, d. h. aus revisionsrechtlicher Sicht – schon aus materiell-rechtlichen oder prozessualen Gründen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt auf die betreffende Feststellung oder Rechtserwägung des FG ankommen, ist es gerechtfertigt, die Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO zu vernachlässigen. Sie gilt hier nicht.[8]

Der BFH kann in diesem Fall ausnahmsweise nach § 126 Abs. 4 FGO ohne Zurückverweisung selbst in der Sache entscheiden, dass das FG-Urteil trotz des Verfahrensmangels aus anderen Gründen richtig bzw. die Klage aus anderen Gründen ohnehin abzuweisen ist, weil es aus revisionsrechtlicher Sicht auf diese Feststellungen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommt.[9] Die Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs kann sich hier nicht auswirken. Die Zurückverweisung könnte zu keiner anderen Entscheidung des FG führen und wäre deshalb ohne Sinn.[10]

 

Rz. 25

Dem Anspruch auf rechtliches Gehör entspricht ein gewisses Maß an Prozessverantwortung des Beteiligten, d. h., der Inhaber des Anspruchs muss im Prozess aktiv mitwirken und alle ihm gebotenen Gelegenheiten, sich vor dem FG Gehör zu verschaffen, nutzen.[11] Der Beteiligte muss jede zumutbare Gelegenheit wahrgenommen haben, sich Gehör zu verschaffen. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör wird begrenzt durch die Mitverantwortung der Beteiligten.[12] An der Kausalität der Gehörsverletzung fehlt es deshalb auch dann, wenn der Beteiligte seinen prozessualen Mitwirkungspflichten in erheblichem Maß nicht nachkommt.[13] Dem Kläger, der erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung, aber vor der Verkündung oder Zustellung des Urteils einen Schriftsatz mit entscheidungserheblichem Inhalt einreicht, kann dementsprechend – vom Fall der Prozessverschleppung abgesehen – nicht entgegengehalten werden, er hätte die Tatsachen früher vortragen können[14]; anders, wenn der Schriftsatz so spät eingereicht wird, dass er vor der Urteilsverkündung nicht mehr berücksichtigt werden kann[15], oder wenn die Möglichkeit des Sachvortrags überhaupt nicht genutzt wird.[16] Bei erheblicher Verletzung der Mitwirkungspflicht braucht das FG den Beteiligten nicht unbedingt auf fehlende Unterlagen oder unvollständige Beweisanträge hinzuweisen.[17]

An der Ursächlichkeit fehlt es ferner, wenn der Beteiligte nicht alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, sich rechtliches Gehör zu verschaffen[18], z. B. durch Antrag auf mündliche Verhandlung nach Gerichtsbescheid[19], Wahrnehmung des Rechts, einen Zeugen zu befragen[20], eine Terminsverlegung zu beantragen usw.[21] Dies gilt aber nur dann, wenn dem Beteiligten die prozessualen Rechte uneingeschränkt zu Gebote standen, somit z. B. nicht, wenn die Ladungsfrist nicht eingehalten war und der Kläger sich deshalb auf die mündliche Verhandlung nicht ausreichend vorbereiten konnte.[22]

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