Rz. 11

Der Begriff der Rechtsverletzung ist in der FGO nicht definiert. Nach § 155 FGO i. V. m. § 546 ZPO liegt eine Verletzung des Gesetzes vor, wenn eine Rechtsnorm

  • nicht (Nichtanwendungsfehler) oder
  • nicht richtig angewendet worden ist.

Dabei stehen die Denkgesetze (Rz. 19) und allgemeinen Erfahrungssätze (Rz. 20) förmlichen Rechtsnormen gleich.[1]

Ein Nichtanwendungsfehler liegt z. B. vor, wenn das FG eine Steuerermäßigung oder Steuerbefreiung übersehen oder überhaupt eine einschlägige Vorschrift nicht angewandt hat.[2]

Die unrichtige Gesetzesanwendung kann beruhen

  • auf einer Verkennung der Tatbestandsmerkmale der richtigen Norm (Interpretationsfehler) oder
  • auf der Einordnung der konkret ermittelten Tatsachen, des Sachverhalts, unter eine hierfür nicht zutreffende Norm bzw. fehlerhafte Einordnung des Sachverhalts unter die zutreffend ausgelegte Norm (Subsumtionsfehler).
 

Rz. 12

Ob eine Rechtsverletzung vorliegt, beurteilt sich rein objektiv nach dem Zeitpunkt der Entscheidung durch den BFH. Ob das FG im Zeitpunkt seiner Entscheidung ebenso hätte urteilen können, ist unerheblich.[3]

Deshalb ist eine nach Abschluss des FG-Verfahrens bzw. während des Revisionsverfahrens eingetretene nachträgliche Rechtsänderung, die das streitige Steuerschuldverhältnis erfasst, vom BFH zu berücksichtigen, auch wenn das FG nach der zur Zeit seines Urteils geltenden Rechtslage zutreffend entschieden hatte.[4] Rechtsänderungen sind für den BFH in dem Umfang beachtlich, in dem sie das FG zu berücksichtigen hätte, wenn es nun anstelle des BFH zu entscheiden hätte.[5]

Ob die Rechtsänderung i. d. S. zeitlich zurückwirkt, bestimmt sich nach dem materiellen Recht.[6] Die Revision kann daher Erfolg haben, auch wenn das FG nach der seinerzeitigen Rechtslage zutreffend entschieden hat. Umgekehrt kann sich eine unzutreffende FG-Entscheidung aufgrund einer nachträglichen (rückwirkenden) Rechtsänderung als zutreffend erweisen. So gesehen kann ein fehlerhaftes FG-Urteil in die Rechtsmäßigkeit "hineinwachsen".[7] Allerdings sind rückwirkende Rechtsänderungen im Steuerrecht eher die Ausnahme.[8]

Grundlage der rechtlichen Prüfung durch den BFH ist das angefochtene FG-Urteil. Ergeht während des Revisionsverfahrens ein Änderungsbescheid, tritt dieser an die Stelle des ursprünglichen Bescheids, sodass dem FG-Urteil ein nicht mehr existierender Bescheid zugrunde liegt. Das FG-Urteil ist daher aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben und grundsätzlich zur erneuten Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.[9] Sind allerdings durch die Bescheidänderung die tatsächlichen Feststellungen des FG unberührt geblieben, entscheidet der BFH gleichwohl in der Sache, d. h. ohne Zurückverweisung. Denn die Tatsachenfeststellungen des FG bilden dann nach wie vor die Grundlage der fortgeltenden tatsächlichen Feststellungen des FG für die Entscheidung des BFH.[10]

 

Rz. 13

Die für die Zulässigkeit der Revision entscheidende Abgrenzung zwischen revisibler Rechtsanwendung und irrevisibler Tatsachenfeststellung kann im Einzelfall schwierig sein. Allgemeingültige Abgrenzungskriterien wurden bisher nicht entwickelt. Die h. M. orientiert sich zutreffend kasuistisch am Zweck der Revision[11]; s. die folgenden Einzelfälle.

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