Rz. 9

Nach der vorherrschenden prozessrechtlichen Theorie stellt das Urteil die bestehende Rechtslage für das konkrete Verfahren fest mit der Folge, dass wegen der in § 110 FGO genannten Bindungswirkung ein Prozess über den gleichen Sachverhalt unzulässig und eine gegen den Entscheidungssatz des Urteils verstoßende (wiederholende) Verwaltungsentscheidung ohne erneute eigene Prüfung des Gerichts als rechtswidrig zu behandeln ist.[1]

 

Rz. 10

Entsprechend der Aufgabe des Finanzgerichtsprozesses, in Ausfüllung des verfassungsrechtlichen Gebots aus Art. 19 Abs. 4 GG Individualrechtsschutz gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zu gewähren, entfalten Urteile keine präjudizielle Wirkung, sondern binden nur im konkreten Einzelfall. Weder die Finanzbehörden noch die FG sind im Übrigen an die in Urteilen des BFH zum Ausdruck gekommenen Rechtsauffassungen gebunden. Lediglich im Fall der Zurückverweisung nach § 126 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FGO tritt eine Bindung des FG im konkreten Einzelfall ein.[2]

 

Rz. 11

Jedoch entsteht durch eine st. Rspr., und weil die FG im Fall der Abweichung von einer Entscheidung des BFH die Revision zulassen müssen[3], eine faktische Bindung an insbesondere die Entscheidungen des BFH über den Einzelfall hinaus. Die FG und die Finanzbehörden richten sich daher i. d. R. bei vergleichbaren Fällen nach der in Entscheidungen des BFH zum Ausdruck gekommenen Rechtsauffassung. Das dient der Rechtssicherheit, die im Besteuerungsverfahren als Massenverfahren mit vielfältig unsicheren gesetzlichen Grundlagen von besonderer Bedeutung ist. Denn zur Rechtsstaatlichkeit von Verwaltungsentscheidungen gehört auch, dass die Eingriffshandlungen grds. vorhersehbar sind. Darüber hinaus hat der Große Senat des BFH dargelegt, dass einer ständigen, für den Stpfl. günstigen Rechtsprechung, der sich die Verwaltung angeschlossen hat, unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit besondere Bedeutung zukommt.[4] Soll die bisherige Rechtsprechung steuerverschärfend geändert werden, seien die Grundsätze anzuwenden, die bei rückwirkenden Gesetzen gelten.[5]

 

Rz. 12

Allerdings hindert § 110 FGO nicht daran, von einer bestehenden Rspr. abzuweichen und ein Urteil nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden. Gegen die sog. zu einzelnen Urteilen des BFH ergehenden Nichtanwendungserlasse der Finanzbehörden ist daher grds. nichts einzuwenden.[6]

 

Rz. 13

Die Rechtskraftwirkung bewirkt auch eine Bindung des Richters in einem nachfolgenden Verfahren, wenn die im ersten Prozess rechtskräftig festgestellte Rechtsfolge eine präjudizielle Voraussetzung für das im zweiten Verfahren verfolgte Klageziel ist.[7] Stehen sich allerdings zwei Urteile in unvereinbarer Weise gegenüber, so ist die Wirkung der Rechtskraft, in Bezug auf einen bestimmten, unveränderten Sachverhalt Rechtsfrieden zu schaffen, aufgehoben.[8]

[1] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 32 m. w. N.
[5] Zustimmend Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 5f.
[6] H. M.; vgl. im Einzelnen Lange, in HHSp, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 99ff.; Brandt, in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 110 FGO Rz. 29f.

3.1.1 Persönliche Bindung

 

Rz. 14

Durch die gerichtliche Entscheidung werden nur gebunden die Beteiligten[1], ihre Rechtsnachfolger, die bei Klagen der Geschäftsführer gem. § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO nicht klagebefugten und deshalb auch nicht beizuladenden[2] Gesellschafter und Gemeinschafter, im Fall des § 60a FGO die Personen, die einen Antrag auf Beiladung nicht oder nicht fristgemäß gestellt haben, und diejenige öffentlich-rechtliche Körperschaft, der die beteiligte Finanzbehörde angehört[3], weil im finanzgerichtlichen Verfahren nicht der Steuergläubiger, sondern die Behörde beteiligt ist, die dem Stpfl. gegenüber tätig geworden ist oder tätig werden soll.[4] Das Urteil ist dann für alle anderen Finanzbehörden dieser Körperschaft verbindlich[5], weshalb eine Beiladung einer anderen Finanzbehörde derselben Körperschaft nicht in Betracht kommt.[6] Dabei ist ggf. zu berücksichtigen, dass auch die Bindung einer anderen Behörde eintreten kann, wenn diese ihre Befugnis zur Entscheidung an die Behörde übertragen hat, gegen die das Urteil ergeht. So kann beispielsweise auch das BMF im Fall eines Urteils, das eine ablehnende Erlassentscheidung aufhebt, gebunden sein, da das BMF seine grundsätzlich gegebene Zuständigkeit auf die Finanzbehörden der Länder teilweise übertragen hat.[7] U. U. muss ein Beigeladener die Wirkung eines Urteils gegen sich gelten lassen, das gegen einen Hauptbeteiligten erlassen wurde.[8]

 

Rz. 15

Gegenüber unbeteiligten Dritten, auch wenn sie mittelbar betroffen sind, entfaltet das Urteil grds. keine Bindungswirkung. Die Bindungswirkung tritt nur bei Identität der Steuerrechtssubjekte ein.[9]

 

Rz. 16

Ausnahmen bilden die nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO nicht klageberechtigten und deshalb nicht als notwendig Beigeladene zu...

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