Rz. 6

Über das Vorliegen der objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Straftat entscheidet die für den Erlass des Haftungsbescheids zuständige Finanzbehörde.[1] Da es sich bei § 71 AO um eine steuerliche Haftungsbestimmung handelt, die dies nicht selbst fordert, ist für die Haftung auch nicht Voraussetzung, dass der Haftungsschuldner wegen des Delikts bestraft worden ist. Vielmehr ist es Aufgabe der Finanzbehörde, die Voraussetzungen der Haftungsinanspruchnahme einschließlich der Begehung der Steuerstraftat von Amts wegen zu ermitteln.[2] In diesem steuerlichen Verfahren gelten auch für die Ermittlung und Annahme der Straftat die steuerlichen, nicht dagegen die strafrechtlichen Grundsätze und Regeln.[3] Auch der strafrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo" gilt für die Feststellung der Straftat nicht, sondern die steuerliche Feststellungslast des FA.[4] Leider werden die steuerlichen und strafrechtlichen Voraussetzungen und Verfahren häufig miteinander vermischt. So soll für die Feststellung des Vorsatzes zur Annahme einer Steuerhinterziehung für die Haftung nach § 71 AO eine Vernehmung des möglichen Haftungsschuldners als Beschuldigter erforderlich sein.[5] Demgegenüber sollen bei Schätzung der Steuer zwar für die Haftung nach § 71 AO nicht die strengen strafrechtlichen Verfahrensregeln gelten, aber auch nicht die Schätzung einfach übernommen werden können. Für die Haftung nach § 71 AO soll vielmehr der Verkürzungsbetrag verwendet werden können, von dessen Vorliegen das FA (bzw. das FG) überzeugt ist.[6]

 

Rz. 7

Ist ein Strafurteil gegen den Haftungsschuldner ergangen, so sind die Finanzbehörde und auch das FG weder an die dort getroffenen rechtlichen noch an die tatsächlichen Feststellungen gebunden[7], auch wenn auseinandergehende Entscheidungen stets misslich sind. Ebenso ist eine Beschränkung in der Selbstständigkeit der Entscheidung des FA oder des FG bei rechtskräftiger Strafverurteilung auf solche Fälle abzulehnen, in denen Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung des Strafgerichts gegeben sind.[8] FA und FG können sich grundsätzlich die Feststellungen des Strafgerichts zu eigen machen, wenn der Haftende dagegen keine substantiierten Einwendungen erhebt.[9] Auch die Entscheidung der Bußgeld- und Strafsachenstelle des FA bindet die für die Haftung zuständige Stelle des FA hinsichtlich weder der tatsächlichen noch der rechtlichen Feststellungen. Das ergibt sich bereits daraus, dass für diese steuerlichen Ermittlungen nicht die strafrechtlichen Grundsätze und Regeln gelten. Auch der Gedanke, dass Strafsachen- und Veranlagungsstelle als Teile ein und derselben Behörde sich nicht widersprüchlich verhalten dürfen, steht dem nicht entgegen. Eine solche Behördeneinheit ist nämlich in der Praxis so gut wie nie gegeben, da in allen Bundesländern von der Möglichkeit des § 387 Abs. 2 AO zur Zentralzuständigkeit Gebrauch gemacht worden ist.

Die Behörde ist jedoch nicht gehindert, sich die im Strafurteil enthaltenen und ihr zutreffend erscheinenden tatsächlichen Feststellungen, Beweiswürdigungen und rechtlichen Beurteilungen zu eigen zu machen.[10] Dies erscheint insbesondere dann zweckmäßig, wenn das Strafurteil bereits rechtskräftig ist.[11] Soweit sich die Finanzbehörde den Inhalt des Strafurteils zu eigen macht, braucht sie hierzu keine eigenen Ermittlungen mehr anzustellen. Das FG dagegen, das nach § 76 Abs. 1 FGO von Amts wegen den Sachverhalt zu erforschen hat und für das der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme[12] gilt, darf die Feststellungen eines Strafurteils – sei es nun rechtskräftig oder nicht – zumindest dann nicht ohne eigene Beweisaufnahme übernehmen, wenn die Beteiligten substantiierte Einwendungen vorbringen und Beweisanträge stellen.[13] Nicht näher konkretisierte Einwendungen gegen ein in einer strafrechtlichen Verständigung abgelegtes Geständnis reichen nicht.[14] Fehlen jedoch im FG-Verfahren substantiierte Einwendungen gegen die Feststellungen im Strafurteil, so kann sich das FG die tatsächlichen Feststellungen, Beweiswürdigungen und rechtlichen Beurteilungen des Strafgerichts zu eigen machen, sofern es sie für zutreffend erachtet.[15]

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