Rz. 80

Eine echte Rückwirkung ("Rückbewirkung von Rechtsfolgen") liegt vor, wenn eine Rechtsnorm nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift. Die echte Rückwirkung ist, weil das Vertrauen des Einzelnen auf den Bestand und das Bestehenbleiben einer Rechtslage verletzt wird, grundsätzlich mit der Verfassung unvereinbar.[1] Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll. Der von einem Gesetz Betroffene muss grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition durch eine zeitlich zurückwirkende Gesetzesänderung nicht verändert wird.

 

Rz. 81

Im Steuerrecht liegt eine echte Rückwirkung nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert. Bei der Einkommen- und KSt ist die Änderung von Normen mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum als unechte Rückwirkung zu beurteilen[2]; auf Eingriffe in abgeschlossene Sachverhalte bei anderen Abgaben ist diese Beurteilung jedoch nicht übertragbar.[3]

 

Rz. 82

An dieser Abgrenzung von echter bzw. unechter Rückwirkung und die Anknüpfung an die Abgeschlossenheit des Veranlagungszeitraums hält das BVerfG trotz der daran geübten Kritik ausdrücklich fest.[4] Damit bietet die jetzige BVerfG-Rspr. keine Basis für einen im Schrifttum vielfach geforderten (einheitlichen) dispositionsbezogenen Rückwirkungsbegriff[5], dessen Ausgangspunkt die nicht abgeschlossene (nicht mehr rückgängig zu machende) Disposition des Stpfl. und nicht die Verhältnisse im späteren Zeitpunkt der Steuerentstehung sind. In der Sache räumt das BVerfG jedoch nunmehr für den Bereich der unechten Rückwirkung dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes einen wesentlich höheren Stellenwert ein (dazu Rz. 89 f.).

 

Rz. 83

Das grundsätzliche Verbot von Normen mit echter Rückwirkung erfährt Ausnahmen, sofern ein schutzwürdiges Vertrauen des Bürgers in den Bestand des geltenden Rechts fehlt. Insofern findet das Rückwirkungsverbot im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze.[6] In jedem Fall verlangt eine solche Ausnahme nach einer besonderen Rechtfertigung.[7]

 

Rz. 84

In der Rspr. des BVerfG wird wegen Fehlens eines schutzwürdigen Vertrauens des Stpfl. bei folgenden – nicht abschließenden[8] – Fallgruppen auch eine echte Rückwirkung für zulässig gehalten[9], wenn

  • der Stpfl. bereits im Zeitpunkt, auf den die Änderung zurückwirkt, mit der Gesetzesänderung rechnen konnte und musste[10];
  • die geänderte, ersetzte Rechtsnorm nichtig (verfassungswidrig) oder ungültig war, sodass von ihr nur ein Rechtsschein ausging;
  • überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine Beseitigung bisherigen Rechts fordern und bei einer Interessenabwägung das an sich schützenswerte Vertrauen des Stpfl. gegenüber zwingenden Gründen des Gemeinwohls, die die rückwirkende Änderung rechtfertigen, zurücktritt[11];
  • das bisher geltende, rückwirkend geänderte Recht so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste, oder wenn das bisherige Recht so systemwidrig und unbillig war, dass seine Verfassungsmäßigkeit ernsthaft zweifelhaft war.[12]
 

Rz. 85

Im Rahmen der letztgenannten Fallgruppe gewinnt die Rückwirkungsproblematik in Fällen der echten Rückwirkung gegenüber sog. Nichtanwendungsgesetzen an Bedeutung. Dem Gesetzgeber steht es zwar grundsätzlich frei, einen Norminhalt zu ändern bzw. klarstellend zu präzisieren und dadurch auch eine ihm missliebige Rechtsprechung zu korrigieren.[13] Eine rückwirkende Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber ist stets als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen; eine solche Regelung gegen die höchstrichterlich geklärte Auslegung darf nur für die Zukunft erfolgen.[14] Eine auslegungsbedürftige und unklare Rechtslage verschafft keinen "Freibrief" für rückwirkende Gesetzesänderungen. Auslegungsschwierigkeiten begründen für sich allein auch keine unklare und verworrene Rechtslage. Für eine solche müssen zusätzliche qualifizierende Umstände hinzutreten, die einen verfassungsrechtlich gesicherten Vertrauensschutz ausschließen.[15]

 

Rz. 86

Nicht abschließend geklärt ist derzeit die Frage, nach welchen Kriterien eine die echte Rückwirkung ausschließende Vertrauensschutzposition der Stpfl. zu bestimmen ist. Eine bloß erkennbare Auslegungsproblematik einer Vorschrift ist zwar kein Entstehungshindernis für verfassungsrechtlich schutzwürdiges Vertrauen.[16] Ob schutzwürdiges Vertrauen allerdings auch dann entstehen kann, wenn der Gesetzgeber nach der Änderung einer langjährigen Rechtsprechung durch Gesetzesänderung die Rechtslage nach früherer Rspr. wiederherstellt, erscheint offen.[17] Wenn ein rückwirkend klarstellendes Gesetz schon bei noch ausstehender höchstrichterlicher Klärung der betreffenden Auslegungsfrage den strengen Vorgaben zur Zulässigkeit einer echten Rückwirkung unterliegt, dürfte sich ein abweiche...

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