1 Allgemeines

1.1 Doppelfunktion der Finanzverwaltung

 

Rz. 1

§ 386 AO begründet die funktionelle Zuständigkeit der Finanzbehörde für die selbständige Strafverfolgung von Steuerstraftaten. Damit erhält die Finanzbehörde die Aufgabe der Staatsanwaltschaft für die in dieser Vorschrift genannten Grenzen. Mit dieser Regelung wird von den allgemeinen Strafvorschriften abgewichen und eine eigene Kompetenz der Finanzbehörde im Steuerstrafverfahren begründet.[1] Gleichzeitig grenzt § 386 AO die finanzbehördliche Rechtsstellung von derjenigen der Staatsanwaltschaft ab.[2]§ 386 Abs. 1 AO legt zugleich die für die Finanzverwaltung zur Erfüllung ihrer strafprozessualen Aufgabe vorgesehene Organisationsstruktur fest, die sich an den Organisationsstrukturen im Justizbereich orientiert. Die Strafverfolgung und Ermittlungen im Strafverfahren obliegen primär der Staatsanwaltschaft. Diese kann die Ermittlungen gem. § 161 S. 1 StPO selbst durchführen oder durch die Behörden oder Beamten des Polizeidienstes vornehmen lassen. Hierzu sind in der Polizeiorganisation nach § 152 GVG besondere Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft zu bestellen. Der Schwerpunkt der eigentlichen Ermittlungsarbeit liegt im polizeilichen Bereich. Die Behörden oder Beamten des Polizeidienstes haben nach § 163 Abs. 1 StPO die eigene Pflicht, Straftaten zu erforschen. Ihnen obliegt der sog. erste Zugriff, nicht aber die Lenkung und der Abschluss des Verfahrens. Diese Grundverantwortung verbleibt bei der Staatsanwaltschaft. Soweit § 386 AO der Finanzbehörde eine selbstständige Ermittlungskompetenz für Steuerstraftaten einräumt, nimmt diese nach § 399 Abs. 1 AO die Rechte und Pflichten der Staatsanwaltschaft wahr. Die strafprozessualen polizeilichen Aufgaben werden gem. § 404 AO den Fahndungsstellen zugewiesen, d. h. den Behörden des Zollfahndungsdienstes oder den mit der Steuerfahndung betrauten Dienststellen, deren Amtsträger nach § 404 S. 2 AO kraft Gesetzes die Rechtsstellung von Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft haben. § 386 AO gilt demgemäß nur für die Finanzbehörde i. S. v. § 386 Abs. 1 S. 2 AO. Sie gilt nicht für die Steuer- bzw. Zollfahndung. Deren strafprozessuale Ermittlungsbefugnis wird durch § 404 AO begründet.[3] Die Befugnis der Fahndung zur Durchführung von Vorfeldermittlungen mit steuerrechtlicher Zielsetzung folgt aus § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO bzw. aus § 208a AO. Diese Aufgabe steht der Finanzbehörde i. S. d. § 386 Abs. 1 S. 2 AO in dieser Funktion nicht zu.

Mit dem Verweis auf § 399 Abs. 1 AO und §§ 400, 401 AO setzt § 386 Abs. 2 AO der finanzbehördlichen Ermittlungskompetenz einerseits Grenzen betreffend das Ermittlungsverfahren und seines Abschlusses. Andererseits erweitert er sie auf allgemeine Delikte, sofern diese Kirchensteuern oder andere öffentlich-rechtliche Abgaben betreffen, die an Besteuerungsgrundlagen, Steuermessbeträge oder Steuerbeträge anknüpfen. In diesen Fällen übernimmt die Finanzbehörde vollumfänglich die Funktion der Staatsanwaltschaft, sofern sie das Verfahren selbständig führt.[4]

§ 386 Abs. 3 AO setzt der selbständigen Ermittlungskompetenz der Finanzbehörde eine absolute Grenze, sobald gegen einen Beschuldigten wegen der Tat ein Haftbefehl oder ein Unterbringungsbefehl zu erlassen ist.

In § 386 Abs. 4 AO ist das Verhältnis der Finanzbehörde zur Staatsanwaltschaft geregelt. Danach kann die Finanzbehörde die Strafsache jederzeit an die Staatsanwaltschaft abgeben. Diese kann eine Strafsache jederzeit an sich ziehen (Evokation). Im gegenseitigen Einvernehmen kann eine nach § 386 Abs. 4 AO an die Staatsanwaltschaft abgegebene oder von dieser evozierte Strafsache im Laufe des Ermittlungsverfahrens wieder an die Finanzbehörde zurückgegeben werden.[5]

 

Rz. 2

Der Finanzverwaltung obliegt nach Art. 108 GG in erster Linie die Verwaltung der Abgaben[6], vornehmlich der Steuern.[7] Verwaltung i. d. S. ist die öffentlich-rechtliche Tätigkeit, die der Geltendmachung des abgabenrechtlichen Anspruchs oder der Durchsetzung der abgabenrechtlichen Pflichten bzw. der Erfüllung der abgabenrechtlichen Ansprüche dienen.[8] Das von den Finanzbehörden i. S. v. § 6 AO geführte Verwaltungsverfahren in Steuersachen, wie es in § 30 Abs. 2 Nr. 1a AO bezeichnet wird, hat nach § 85 S. 1 AO die Zielsetzung, die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben.

Durch §§ 386, 385 Abs. 2, 404 AO ergibt sich für die Finanzverwaltung eine Aufgabenerweiterung.[9] Die Bestimmungen sind Grundlage für die rechtmäßige Mitwirkung der Finanzverwaltung bei der Strafverfolgung wegen Steuerstraftaten. Zielsetzung des Strafverfahrens ist die Ahndung des steuerlichen Fehlverhaltens. Die Aufgabenzuweisung der Strafverfolgung in den Fällen des § 386 AO an die Finanzbehörde ist verfassungsgemäß.[10]

Die Finanzverwaltung tritt dem Bürger also in einer Doppelfunktion gegenüber.[11] Im Rahmen ihrer steuerlichen Aufgabenstellung handelt sie als Verwaltungsbehörde[12], im Rahmen ihrer strafrechtlichen Aufgabenstellung als Strafverfolgungsorgan im Strafverfahren.[13]

 

Rz. 3

Aufgrund dieser Doppelfu...

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