Rz. 76

Als Aussetzungsgrund genügt eine Unsicherheit oder Unentschiedenheit hinsichtlich der Rechtslage, sodass sich bei abschließender Klärung der Rechtsfragen der Verwaltungsakt als rechtswidrig erweisen könnte.[1] Es muss weder das Obsiegen noch das Unterliegen im Einspruchs- bzw. Klageverfahren mit Sicherheit ausgeschlossen werden können.[2] Das Obsiegen braucht hierbei nicht einmal wahrscheinlicher zu sein als das Unterliegen (kein Erfordernis einer Erfolgswahrscheinlichkeit).[3]

 

Rz. 76a

Die AdV setzt voraus, dass die zweifelhafte Rechtsfrage entscheidungserheblich ist.[4] Ernstliche Zweifel bestehen bei sich widersprechenden finanzgerichtlichen Entscheidungen bzw. unterschiedlichen Rechtsauffassungen zwischen Senaten des BFH.[5] Auch bei unklarer Gesetzeslage und nicht vorliegender höchstrichterlicher Rspr. sowie bei Literaturstimmen, die gegen die Rechtsauffassung der Finanzbehörde eintreten, ist die entsprechende Unsicherheit gegeben.[6] Ebenso hat die AdV zu erfolgen, wenn die Behörde die Rechtsauffassung in BFH-Entscheidungen durch einen Nichtanwendungserlass nicht akzeptiert.[7]

Schließlich bestehen ernstliche Zweifel in rechtlicher Hinsicht, wenn in der Literatur beachtliche Gründe gegen höchstrichterliche Rechtsprechung vorgetragen werden.[8]

 

Rz. 76b

Ist im Hauptsacheverfahren bei summarischer Prüfung eine Vorlage zur Vorabentscheidung durch den EuGH nach Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV erforderlich, so rechtfertigt dies die AdV.[9]

Die entsprechenden Zweifel können sich aber auch bereits daraus ergeben, dass eine solche Vorlage an den EuGH nur allgemein betrachtet für erforderlich gehalten wird.[10] Somit bestehen entsprechende Zweifel auch, wenn die Frage von einem Gericht dem EuGH bereits vorgelegt wurde.[11] Die Finanzverwaltung lässt es indes nicht ausreichen, dass ein anderes Gericht einen Vorabentscheidungsgesuch an den EuGH beschlossen hat.[12]

 

Rz. 76c

Insofern bestehen ernstliche Zweifel, wenn im summarischen Verfahren nicht auszuschließen ist, dass ein Verstoß gegen Europarecht vorliegt. Dieser Verstoß kann sich gegenüber Richtlinien oder Verordnungen der EU als sekundärem Unionsrecht aber auch primärem EU-Recht wie den Grundfreiheiten nach AEUV ergeben.[13] In diesem Zusammenhang ist der Vorrang des Unionsrechts zu beachten, der auch ohne Entscheidung des EuGH zu wahren ist. D.h. anders als bei der Frage, ob ein Gesetz gegen das GG verstößt, die nur das BVerfG beantworten kann, sind etwa die Grundfreiheiten auch von der Finanzverwaltung und den nationalen Gerichten selbst zu wahren.[14]

Voraussetzung für diese Überprüfung anhand des Europarechts ist aber, dass der entsprechende VA nicht in den Anwendungsbereich des UZK oder ZK fällt, denn dann ist § 361 AO nicht anwendbar.[15] Dabei ist unter Berücksichtigung, dass es sich bei der AdV um ein summarisches Verfahren handelt, eine Wahrscheinlichkeitsprognose anzustellen, ob ein Verstoß gegen Europarecht vorliegt. In diese Prognose sind ggf. bereits vorliegende Rspr. des EuGH bzw. von Organen der EU ergriffene Maßnahmen wie von der Kommission angestrengte Vertragsverletzungsverfahren aber auch in der Rspr. von FG oder BFH diesbezüglich geäußerte Zweifel bzw. Meinungen in der Literatur einzubeziehen.[16] Erscheint es demnach eher wahrscheinlich, dass kein Verstoß gegen EU-Recht vorliegt bzw. der EuGH die entsprechende Regelung auf nationalrechtlicher Ebene nicht beanstanden wird, unterbleibt die AdV, da dann keine diesbezüglichen ernstlichen Zweifel vorliegen.[17] Sind solche erheblichen Zweifel gegeben, erfolgt wegen des summarischen Verfahrens keine abschließende Prüfung, diese ist vielmehr dem Verfahren in der Hauptsache vorbehalten, also dem gerichtlichen Hauptsacheverfahren[18], aber auch ggf. der Einspruchsentscheidung selbst. Hinsichtlich der Gewährung von AdV wegen europarechtlichen Zweifeln ist es jedoch im Unterschied zu Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit grundsätzlich nicht zusätzlich erforderlich, dass ein berechtigtes Interesse an der Gewährung der AdV besteht, das das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung überwiegt.[19] Dies hängt damit zusammen, dass im Unterschied zum BVerfG der EuGH regelmäßig das Interesse der Allgemeinheit an einer geordneten Haushaltsführung in den Mitgliedstaaten nicht in seine Entscheidungen einfließen lässt. Bei Zweifeln, die sich aus der Vereinbarkeit von sekundärem mit primärem Unionsrecht ergeben, gelten jedoch Besonderheiten (vgl. Rz. 77).

 

Rz. 76d

Ernstliche Zweifel bestehen in jedem Fall, wenn der Regelungsinhalt des Verwaltungsakts nicht hinreichend klar und bestimmt ist[20] oder bei einer Ermessensentscheidung Begründungsmängel vorliegen.[21]

 

Rz. 77

Zudem können sich Zweifel an der Rechtmäßigkeit aus dem Umstand ergeben, dass sich die Frage auftut, ob ein nationaler Verwaltungsakt, der auf sekundärem Unionsrecht beruht, gegen primäres Unionsrecht verstößt, weil das sekundäre Unionsrecht seinerseits gegen primäres Unionsrecht (insbesondere die Grundfreiheiten nach AEUV) verstößt. Bei ...

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