Rz. 124

Ein zwingendes öffentliches Interesse an einem Offenbaren oder Verwerten kann auch in anderen Fällen bestehen, die den Beispielsfällen in Abs. 4 Nr. 5 vergleichbar sind. Da sich die Beispielsfälle intensiv mit dem öffentlichen Interesse an einer Abwehr erheblicher Gefahren für die Allgemeinheit, bzw. der Verhinderung erheblicher Straftaten und deren Strafverfolgung bzw. Sicherung des Vertrauens in die Verwaltung beschäftigen, wird es sich um Anwendungsfälle außerhalb dieser Bereiche handeln. Dabei ist genau zu prüfen, ob überhaupt ein öffentliches Interesse und nicht nur ein gewichtiges privates Interesse (vgl. Rz. 113) gegeben ist.[1] In Betracht kommen besonders schwerwiegende finanzielle Interessen, aber auch Überwachungsinteressen. Ein zwingendes öffentliches Interesse ist stets gegeben, wenn beim Unterlassen des Offenbarens oder der Verwertung die Gefahr schwerer Nachteile für das Wohl des Bundes, eines Landes oder einer anderen zentralen öffentlich-rechtlichen Körperschaft eintreten würde.[2] Das kann nicht in jedem Fall angenommen werden, in dem eine gesetzliche Vorschrift ohne die Mitteilung sonst leerlaufen würde, da die Regelung des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO auf den Einzelfall abstellt.[3] Das zwingende öffentliche Interesse ist aber dann gegeben, wenn die Nichtweitergabe von Informationen eine erhebliche Störung der wirtschaftlichen Ordnung darstellen würde. Es reicht, wenn dieses Ergebnis bei gebündelter Betrachtung mehrerer oder vieler Einzelfälle beim Unterlassen anzunehmen wäre, sofern nur die Einzelfälle für sich auch schon als gewichtig anzusehen sind.[4] Die Frage, ob im Einzelfall ein zwingendes öffentliches Interesse anzunehmen ist, ist gerichtlich voll nachprüfbar.

 

Rz. 124a

In Fällen schwerer Verstöße gegen Vorschriften des Umweltrechts ist über die von § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchst. a) AO genannten Fälle hinaus u. U. wegen Vorliegens eines zwingenden öffentlichen Interesses ein Recht zum Offenbaren oder Verwerten von geschützten Daten anderer gegeben.[5] Die Schwere der Auswirkungen auf die Allgemeinheit muss mit den übrigen Fällen des zwingenden öffentlichen Interesses nach § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO vergleichbar sein.[6] Abstrakte Tatbestände der Umweltgefährdung[7] reichen hierfür nicht aus.

 

Rz. 125

Ein zwingendes öffentliches Interesse kann im Einzelfall an der Mitteilung der steuerlichen Unzuverlässigkeit an die Behörden bestehen, die zur Untersagung der Gewerbeausübung nach § 35 GewO oder zur Zurücknahme einer Gaststättenkonzession nach § 15 GaststG zuständig sind.[8] Die Gegenmeinung weist darauf hin, dass es bei Berücksichtigung des verfassungsrechtlich bedeutsamen Schutzgehalts des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nur auf das Bestehen eines besonderen öffentlichen Interesses im konkreten Einzelfall ankommen könne. Dem wird auch zuzugestehen sein, dass die Beispielsfälle des Abs. 4 Nr. 5 jeweils gravierender sind, als ein Einzelfall steuerlicher Unzuverlässigkeit. Ein reiner Fokus allein auf den Einzelfall reicht aber dann nicht aus, wenn sich zusätzliche Betrachtungserfordernisse aus einem Zusammenspiel ähnlich gerichteter Fälle ergeben. Hier bedarf es für die Subsumtion der Sachverhaltsmerkmale des Einzelfalls unter das zwingende öffentliche Interesse auch der durch die Regelbeispiele des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO vorgegebenen Gewichtung der Interessen des Gemeinwohls insbesondere auch an einer funktionsfähigen wirtschaftlichen Ordnung. Daraus ergibt sich für die Weitergabe geschützter Daten aus dem Besteuerungsverfahren zumindest im Grundsatz das zwingende öffentliche Interesse an der Offenbarung der Daten, um die schwerwiegende Folge zu vermeiden, dass materiell-rechtlich gebotene Gewerbeuntersagungen wegen steuerrechtlicher Unzuverlässigkeit praktisch unmöglich werden.[9]

Nicht von der Hand zu weisen ist das Argument, dass der Gesetzgeber die Offenbarungszulässigkeit in der GewO und im GaststG ausdrücklich hätte regeln können, zumal die Problematik seit langer Zeit bekannt sei. Bei einer erheblichen und nachhaltigen Unzuverlässigkeit eines Gewerbetreibenden kann aber ein stärkeres öffentliches Interesse am Unterbinden einer weiteren Gewerbeausübung als an einer Strafverfolgung bestehen. Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs erfordert deshalb zwingend auch ein funktionsfähiges System der Regulierung der Gewerbeausübung, das ohne die Erkenntnisse der Finanzbehörden nicht funktionieren kann. Vom zwingenden öffentlichen Interesse gedeckt kann die Offenbarung im Einzelfall allerdings nur insoweit sein, wie sich aus den mitgeteilten Fakten eine Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden ergeben kann.[10] Es muss sich zudem um Steuern handeln, die mit der Ausübung des Gewerbes zusammenhängen, z. B. USt, GewSt und LSt.[11] Nach BFH v. 29.7.2003, VII R 39, 43/02, BStBl II 2003, 828 soll die Offenbarungsbefugnis sich sogar auf noch nicht bestandskräftig festgesetzte Steuern beziehen.

 

Rz. 125a

Die Fälle von betrügerisch erlangten Coronahilfen, soweit diese im Einzelfall die Voraussetzungen d...

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