Rz. 120

Als Wirtschaftsstraftaten kommen Delikte in Betracht, die von Personen des Geschäftslebens, von Angehörigen der freien Berufe wie auch von im Wirtschaftsleben agierenden staatlichen Funktionsträgern im Rahmen ihrer beruflichen oder geschäftlichen Tätigkeit begangen werden.

An der Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten soll dann ein zwingendes öffentliches Interesse bestehen, wenn die Taten nach ihrer Begehungsweise oder wegen des Schadensumfangs geeignet sind, die wirtschaftliche Ordnung erheblich zu stören oder das Vertrauen der Allgemeinheit auf "die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs oder die ordnungsgemäße Arbeit der Behörden und der öffentlichen Einrichtungen" erheblich zu erschüttern.

Der Begriff der Wirtschaftsstraftat in § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchst. b AO ist nicht identisch mit dem in § 74c GVG. Entgegen dem Vorschlag des Rechtsausschusses des Bundestages umfasst er nicht alle Wirtschaftsstraftaten, die nach § 74c GVG zur Zuständigkeit des Landgerichts gehören. Zwar müssen stets die Voraussetzungen der Wirtschaftsstraftat des § 74c GVG erfüllt sein, es treten aber weitere Erfordernisse hinzu. § 74c GVG zählt u. a. Straftaten nach dem AktG, dem GmbHG, dem HGB, dem GenG, dem KreditwesenG, dem WirtschaftsstrafG, wie auch dem Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen und dem UWG auf. Demgegenüber einschränkend setzt die Offenbarungsbefugnis nach § 30 Abs. 4 Nr. 5 Buchst. b AO eine Reihe weiterer Tatbestandskriterien voraus, die teils alternativ, teils kumulativ erfüllt sein müssen. Entscheidend sind im Einzelfall die Begehungsweise, der Umfang des verursachten Schadens und ihre Wirkung auf die wirtschaftliche Ordnung und das Vertrauen der Allgemeinheit. Diese Umstände sind bei der Einzeltat zu prüfen[1], nicht dagegen im Verband mit gleichgelagerten Taten anderer Täter. Danach wird auch nicht bei jeder Insolvenzstraftat[2] oder Straftat nach dem UWG der Befugnisfall der Nr. 5 Buchst. b gegeben sein, während eine als Wirtschaftsstraftat anzusehende Bestechung[3] stets die Voraussetzungen der Nr. 5 Buchst. b erfüllen wird.[4] Wichtige und für eine Offenbarung unter besonderen Umständen in Betracht kommende Wirtschaftsstraftaten sind der Subventionsbetrug[5] und der Bankrott.[6]

Die wirtschaftliche Ordnung ist nur dann gestört, wenn die Tat Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Zusammenspiel hat. Das kann nur dann angenommen werden, wenn eine Vielzahl von Geschädigten vorhanden ist oder die Tat sich durch Ketten- oder Schneeballfolgen auf eine größere Zahl von Unternehmen auswirkt. Die Störung muss vor allem hinsichtlich des Schadensumfangs im konkreten Einzelfall erheblich sein, sodass nur Fälle großen Ausmaßes[7] in Betracht kommen.

Eine Erschütterung des Vertrauens der Allgemeinheit in die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs oder in die ordnungsgemäße Arbeit der Behörden und der öffentlichen Einrichtungen durch eine Wirtschaftsstraftat setzt ebenfalls einen über wenige Betroffene hinausgehenden Schaden oder eine solche Gewichtigkeit einer öffentlich bekannt gewordenen kriminellen Tat voraus, dass die Allgemeinheit im geschäftlichen Verkehr verunsichert wird, nachdem sie bis zu dieser Tat ein entsprechendes Vertrauen gehabt hat.[8] Bereits das Erschüttern des Vertrauens der Allgemeinheit dürfte kaum einmal gegeben sein. Aufgrund der täglichen Berichterstattung in den Medien und sonstiger Erfahrungen wird nämlich von einer gewissen Unredlichkeit im geschäftlichen Verkehr ausgegangen. Das Gesetz fordert darüber hinaus eine erhebliche Erschütterung. Hier kommen vor allem außerordentliche Fälle von Verstößen gegen das UWG, das AktG[9], das GenG[10] sowie des Kredit- und Subventionsbetrugs[11] und des Bankrotts[12] in Betracht, vor allem, wenn diese durch "Beeinflussung" von Amtsträgern geschehen sind.

 

Rz. 120a

Insbesondere im Zusammenhang mit Betrugsfällen im Zusammenhang mit staatlichen Leistungen zur Milderung der wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie (Coronahilfen) wurde sehr intensiv und mit erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Folgen die Diskussion geführt, ob zur Verfolgung dieser Straftaten auch in Fällen von geringerem Gewicht die Daten der Finanzbehörden herangezogen werden dürfen, mithin das Steuergeheimnis insoweit durchbrochen wird.

Die Öffnungsnorm des § 31a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b Doppelbuchst. bb i. V. m. § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO war insoweit in der Vergangenheit nicht einschlägig, da die strafrechtliche Ahndung nicht Inhalt dieser Norm war.[13] Die Öffnungsregelung durch Einfügung des S. 2 in § 31a Abs. 1 AO wirkt konstitutiv und nach Art. 43 Abs. 1 des JStG 2022[14] erst am Tag nach der Verkündung des Gesetzes.[15]

Insbesondere zur Frage der strafprozessualen Verwertung der zur Strafverfolgung von Betrug im Zusammenhang mit Coronahilfen herangezogenen geschützten Daten aus dem Besteuerungsverfahren bleibt also die Frage relevant, ob sich vor der Rechtsänderung durch § 31a Abs. 1 S. 2 AO eine Offenbarungs- und Verwertungsberechtigung für Zwecke der Strafverfolgung bereit...

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