Rz. 46

Die Aufgabenstellung des § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO für die Fahndung, die "unbekannten Steuerfälle" aufzudecken und zu ermitteln, rechtfertigt nicht eine generelle Unterstellung der Steuerunehrlichkeit und eine Fahndung "ins Blaue hinein". Eine solche Interpretation des Norminhalts wäre rechtsstaatlich nicht vertretbar.[1] Die Aufnahme steuerlicher Ermittlungen zur Ausforschung ist nach der AO nicht statthaft.[2] Wie für die Aufnahme steuerlicher Ermittlungen nach § 88 AO generell, muss auch für den Beginn der Fahndungstätigkeit nach § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO ein hinreichender Anlass bestehen.[3] Fehlt dieser Anlass, so sind die getroffenen Ermittlungsmaßnahmen rechtswidrig.[4]

 

Rz. 47

Der Anlass zur Aufnahme der Ermittlungen darf sich aber noch nicht so weit konkretisiert haben, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Erfüllung des Tatbestands der Steuerhinterziehung[5] bzw. der leichtfertigen Steuerverkürzung[6] vorliegen, es darf also kein Tatverdacht i. S. v. § 152 Abs. 2 StPO gegeben sein.[7] In diesem Fall ist es der Fahndung verwehrt, im Besteuerungsverfahren nach § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO Ermittlungen zu führen. Aufgrund des strafprozessualen Legalitätsprinzips ist die Fahndung verpflichtet, die Ermittlungen im Strafverfahren, also nach § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2 AO (s. Rz. 37), zu führen.[8] Die Fahndung hat kein Wahlrecht, ob sie steuerliche Ermittlungen oder Ermittlungen im Straf- bzw. Bußgeldverfahren führen will (s. Rz. 23). Dies gilt auch, wenn der Täter unbekannt ist, also das Strafverfahren "gegen Unbekannt" zu führen ist (s. Rz. 36).

 

Rz. 48

Werden die Ermittlungen nach § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO "in Steuersachen" geführt, obgleich der Tatverdacht gegeben ist, so führt dieser Verstoß gegen die Einleitungspflicht zu einer missbräuchlichen Ausnutzung der steuerlichen Mitwirkungspflicht.[9] Dies bewirkt allerdings kein steuerliches Verwertungsverbot, führt aber, wenn die unangekündigten Ermittlungen gegen einen bekannten Stpfl. geführt werden, zwingend zu einem strafrechtlichen Verwertungsverbot (s. Rz. 58).

 

Rz. 49

§ 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO gibt der Fahndung nicht die Befugnis zu einer Rasterfahndung oder zu ähnlichen Ermittlungsmaßnahmen.[10]"Ins Blaue hinein" darf die Fahndung Ermittlungen nicht durchführen.[11] Ein den Beginn der Fahndungstätigkeit zur Aufdeckung "unbekannter Steuerfälle" rechtfertigender hinreichender Anlass (s. Rz. 46) liegt vor, wenn über eine Unterstellung oder einfache Vermutung hinaus[12] konkrete Momente oder allgemeine Erfahrungen vorliegen, die Ermittlungsmaßnahmen geboten erscheinen lassen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.[13]

Der Beginn kann also veranlasst sein durch z. B. Erkenntnisse aus allgemeinen Publikationen, aus ähnlichen Fahndungsfällen[14] oder aus Selbstanzeigen.[15] Liegen solche Erkenntnisse vor, sind die Ermittlungsmaßnahmen, auch wenn sie in großer Zahl erfolgen, nicht als Rasterfahndung oder Ermittlung ins Blaue zu qualifizieren.[16]

Für den Beginn der Fahndungstätigkeit reicht zunächst diese Gefährdung des Steueraufkommens; ein besonderer Wahrscheinlichkeitsgrad, dass Verkürzungen eingetreten oder unberechtigte Steuervorteile erlangt sind, ist nicht Voraussetzung. Es muss nur die Möglichkeit bestehen.[17] Die Gefährdung muss also nicht naheliegend sein.[18] Je höher der Wahrscheinlichkeitsgrad ist, desto näher liegt vielmehr der Tatverdacht, der zu straf- bzw. bußgeldrechtlichen Ermittlungen "gegen Unbekannt" führen muss (s. Rz. 36, 47).

 

Rz. 50

Die Ermittlung unbekannter Stpfl. darf und muss beginnen, wenn Sachverhalte in Erscheinung getreten sind, bei denen aufgrund der Erfahrungen oder Erkenntnisse, zumeist aus anderen Ermittlungsverfahren oder aus Einzelfällen, angenommen werden kann, dass auch andere Stpfl., bei denen dieser Sachverhalt vorliegt, Steuerverkürzungen bewirkt oder ungerechtfertigte Steuervorteile erlangt haben. Die Gefahr für die gesetzmäßige und gleichmäßige Besteuerung resultiert also aus der jeweiligen Sachverhaltsgestaltung.

Anlass für die Aufdeckung "unbekannter Steuerfälle" i. S. d. Ermittlung unbekannter Stpfl. können z. B. Chiffre-Anzeigen sein.[19] Ein Auskunftsverweigerungsrecht des Presseorgans ist bei Chiffre-Anzeigen in keinem Fall gegeben.[20]

 

Rz. 51

Zur Aufdeckung "unbekannter Steuerfälle" können auch Sammelauskunftsersuchen gestellt werden. Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften[21] führte der Gesetzgeber § 93 Abs. 1a AO ein, nach dem die Finanzbehörde an andere Personen als die Beteiligten Auskunftsersuchen über eine ihr noch unbekannte Anzahl von Sachverhalten mit dem Grunde nach bestimmbaren, ihr noch nicht bekannten Personen stellen darf.[22] In Anlehnung an die gefestigte Rechtsprechung des BFH[23] ist Voraussetzung dafür, dass ein hinreichender Anlass für die Ermittlungen besteht und andere zumutbare Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung keinen Erfolg versprechen. Damit kodifiziert der Gesetzgeber, was zuvor bereits anerkannte Praxis...

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