Rz. 34

Die vormals umstrittene Frage, ob ein Folgebescheid zeitlich vor dem Grundlagenbescheid ergehen kann (wovon der Wortlaut des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO ausgeht), ist durch Gesetz v. 20.8.1980[1] geklärt. Nunmehr bestimmt § 155 Abs. 2 AO ausdrücklich, dass ein Steuerbescheid als Folgebescheid auch vor dem Erlass eines Grundlagenbescheids ergehen kann. Erforderlichenfalls sind dabei die noch nicht festgestellten Besteuerungsgrundlagen zu schätzen.[2] Die Regelung fügt sich in das System der gesonderten Feststellung und ihre Bindungswirkung zwanglos ein. Die Ermittlungs- und Entscheidungskompetenz des für den Folgebescheid zuständigen FA ist nicht schlechthin aufgrund des Vorrangs des Grundlagenbescheids ausgeschlossen, sondern nur, soweit ein Grundlagenbescheid zu ergehen hat. Dem Grundlagenbescheid steht zwar die primäre Regelungsbefugnis zu. Damit ist aber eine subsidiäre oder "konkurrierende" Regelungsbefugnis des Folgebescheids vereinbar, wenn und soweit der Grundlagenbescheid keine Entscheidung trifft. Das für den Folgebescheid zuständige FA hat also eine Entscheidungsbefugnis, die nur verdrängt wird, wenn und soweit ein Grundlagenbescheid ergangen ist. Ist noch kein Grundlagenbescheid ergangen, entweder weil überhaupt keiner ergehen wird[3] oder weil er erst später ergehen wird[4], besteht die subsidiäre Entscheidungsbefugnis des für den Folgebescheid zuständigen FA weiter. Es kann eigene Ermittlungen und eigene Entscheidungen treffen.[5]

Hieraus folgt aber andererseits auch eine Begrenzung der Befugnis zum Erlass des Folgebescheids. Der Folgebescheid kann Entscheidungen, die im Grundlagenbescheid zu treffen sind, nur vorläufig und im Vorgriff auf eine Regelung im Grundlagenbescheid treffen. Ist ein Grundlagenbescheid ergangen und seine Änderung zu erwarten, darf der Folgebescheid nicht im Vorgriff auf die zu erwartende Änderung von dem bestehenden Grundlagenbescheid abweichen. Solange der Grundlagenbescheid besteht, entfaltet er Bindungswirkung. Ein Folgebescheid im Vorgriff auf eine erwartete Änderung des Grundlagenbescheids würde gegen diese Bindungswirkung verstoßen.[6]

Wird der Folgebescheid vor dem Grundlagenbescheid erlassen, muss in dem Folgebescheid deutlich gemacht werden, dass es sich um eine vorläufige Entscheidung im Vorgriff auf den Grundlagenbescheid handelt.[7]

 

Rz. 35

Ist ein Grundlagenbescheid nicht ergangen, besteht für den Folgebescheid auch keine Bindung. Im Rechtsbehelfs- bzw. Gerichtsverfahren über den Folgebescheid sind daher auch die Besteuerungsgrundlagen zu prüfen, die zum Regelungsbereich des Grundlagenbescheids gehören. In diesen Fällen ist jedoch das Verfahren über den Folgebescheid regelmäßig auszusetzen, bis das für den Grundlagenbescheid zuständige FA geprüft und entschieden hat, ob ein Folgebescheid zu erlassen ist.[8] Erlässt das FA dann den Grundlagenbescheid, ist der Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO anzupassen. Das Verfahren über den Folgebescheid ist erledigt, soweit die festgestellten Besteuerungsgrundlagen betroffen sind. Anzufechten ist nunmehr der Grundlagenbescheid. Erlässt das FA keinen Grundlagenbescheid, weil die Voraussetzungen einer Feststellung nicht vorliegen, oder lehnt es eine Feststellung durch einen negativen Grundlagenbescheid ab, ist das Verfahren über den Folgebescheid fortzusetzen.[9]

 

Rz. 36

Aus dem subsidiären Charakter des Folgebescheids folgt zudem, dass in ihm endgültig keine Entscheidungen getroffen werden können, die nach dem Gesetz dem Grundlagenbescheid vorbehalten sind. Die Kompetenz des für den Folgebescheid zuständigen FA nach § 155 Abs. 2 AO ist nur eine vorläufige, keine endgültige. Ist daher eine Besteuerungsgrundlage gesondert festzustellen, kann ein Feststellungsbescheid aber aus formellen Gründen, etwa wegen Ablaufs der Feststellungsfrist, nicht mehr ergehen, kann diese Besteuerungsgrundlage in den Folgebescheid nicht aufgenommen werden, weil dann darin eine endgültige Entscheidung liegen würde. Bedarf es nach dem Gesetz einer gesonderten Feststellung, ist für eine eigenständige Entscheidung im Folgebescheid kein Raum.[10] Vielmehr kann diese Besteuerungsgrundlage nicht mehr berücksichtigt werden. Die durch den aufgehobenen Grundlagenbescheid ausgelöste Änderung des Folgebescheids ist rückgängig zu machen. Es ist diejenige Rechtslage herzustellen, die bestehen würde, wenn der aufgehobene Grundlagenbescheid nicht erlassen worden wäre.[11]

 

Rz. 37

Im Zusammenhang mit § 155 Abs. 2 AO hat diese Rechtsprechung zur Folge, dass eine vor Ergehen des Feststellungsbescheids vorgenommene Steuerfestsetzung nach § 155 Abs. 2 AO bestehen bleibt, wenn es zu einer Aufhebung späterer Feststellungsbescheide wegen Ablaufs der Feststellungsfrist kommt. Der Zustand, der "bestehen würde, wenn die aufgehobenen Feststellungsbescheide nicht ergangen wären", ist dann der unter Anwendung des § 155 Abs. 2 AO erlassene Folgebescheid.[12] M. E. ist dem nicht zu folgen. Wenn § 155 Abs. 2 AO nicht zu einer endgültigen Entscheidung über die Besteuerungsgru...

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