Rz. 101

Der Tatbestand setzt voraus, dass der bestimmte Sachverhalt in dem Steuerbescheid nicht berücksichtigt worden ist. Er darf also in keinem der in Betracht kommenden Steuerbescheide berücksichtigt worden sein, obwohl er in einem dieser Bescheide hätte berücksichtigt werden müssen. Diese Tatbestandsvoraussetzung liegt nicht vor, wenn der Sachverhalt nicht unberücksichtigt geblieben, sondern entgegen der Rechtslage falsch gewürdigt worden ist. § 174 Abs. 3 AO kann nicht dazu genutzt werden, Rechtsfehler bei der Sachverhaltswürdigung zu korrigieren.[1]

 

Rz. 101a

Der Steuerbescheid, der nach Abs. 3 geändert werden soll, muss in der Annahme erlassen worden sein, dass der Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei. Die Annahme, der Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu erfassen, muss also kausal für die Nichterfassung in dem ersten Steuerbescheid gewesen sein. Das ist nicht der Fall, wenn die Finanzbehörde von dem fraglichen Sachverhalt keine Kenntnis hat oder irrtümlich davon ausgeht, dass der Sachverhalt für den bearbeiteten Vz und auch einen späteren Vz keine steuerliche Bedeutung hat.[2] Für diese Kausalität ist es unerheblich, ob die Fehlbeurteilung des FA, in welchem Steuerbescheid der Sachverhalt zu erfassen ist, auf einer sachlichen oder rechtlichen Fehlbeurteilung beruht.[3] Keine Kausalität i. d. S. liegt vor, solange das FA von dem Sachverhalt keine Kenntnis hat.[4] Da die Kausalität sich darauf beziehen muss, dass das FA annimmt, der Sachverhalt sei in einer anderen Steuerfestsetzung zu erfassen, fehlt es an der Kausalität ebenfalls, wenn das FA prüft, ob der Sachverhalt überhaupt steuerbar ist[5] oder wenn das FA die Auffassung vertritt, der Sachverhalt sei nicht steuerbar, weil z. B. eine bestimmte Ausgabe keine Betriebsausgabe sei.[6]

 

Rz. 102

Alle anderen Ursachen für das Nichterfassen berechtigen nicht zu einer Änderung nach Abs. 3. Hat das FA in einem ESt-Bescheid etwa die Annahme zugrunde gelegt, ein bestimmter Vorgang stelle keine Entnahme dar und führe daher nicht zu einem Entnahmegewinn, liegt der Tatbestand des Abs. 3 nicht vor. Das FA hat dann entschieden, dieses Verhalten des Stpfl. führe nicht zu einer Besteuerung. Dieses Verhalten, dieser Sachverhalt soll also überhaupt nicht, nicht erst in einem späteren Steuerbescheid, besteuert werden. Eine spätere Entnahmehandlung ist dann ein neuer Sachverhalt, nicht Besteuerung des ursprünglichen Sachverhalts in einem späteren Bescheid.[7]

 
Praxis-Beispiel

(1) Bei der Veranlagung des Jahres 01 nimmt die Finanzbehörde irrtümlich an, bestimmte Einnahmen seien steuerfrei; bei der Veranlagung 02 wird dieser Irrtum bemerkt. Es liegt kein Fall des § 174 Abs. 3 AO vor, da die Versteuerung im Jahr 01 nicht im Hinblick auf die Veranlagung 02 unterblieben ist.

(2) Bei der Veranlagung 01 hat die Finanzbehörde keine Kenntnis von einer Betriebseinnahme; sie erfährt hiervon erst anlässlich der Veranlagung 02. Es liegt ebenfalls kein Fall des § 174 Abs. 3 AO vor, eine Änderung der Veranlagung 01 kann nur nach § 173 AO erfolgen.

 

Rz. 103

Kausalität der Annahme für die widerstreitende Steuerfestsetzung liegt nicht vor, wenn die Finanzbehörde von der (irrigen) Annahme ausgeht, der Sachverhalt sei in keinem der fraglichen Steuerbescheide zu erfassen.[8]

 

Rz. 104

Die irrige Annahme muss bei dem den Steuerbescheid erlassenden Beamten vorliegen.[9] Eine Annahme des Stpfl., die der Finanzbeamte, weil unerkennbar, nicht übernommen hat, führt nicht zur Anwendung des Abs. 3.[10] Ebenso genügt es nicht, dass die irrige Annahme bei OFD und Finanzministerium vorliegt.[11]

 

Rz. 105

Der unrichtige Steuerbescheid muss auf der Annahme beruhen, der Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu erfassen. Das setzt voraus, dass sich der zuständige Steuerbeamte konkret Gedanken darüber gemacht hat, in welchem Steuerbescheid dieser Sachverhalt zu erfassen ist.[12] Unspezifizierte Wertungen, der Sachverhalt werde später irgendwelche Auswirkungen haben, genügen nicht. Der Sachbearbeiter muss konkret zwischen zwei (oder mehr) Besteuerungszeiträumen wählen, in denen der Sachverhalt zu erfassen ist, und sich für einen entscheiden. Ebenfalls nicht ausreichend ist es, wenn das FA einen Fehler des Stpfl. unreflektiert übernommen hat. Der Fehler beruht dann nicht auf einer "Annahme", d. h. einer bewussten Überlegung des FA.[13]

 

Rz. 106

Es ist nicht erforderlich, dass der strittige Sachverhalt tatsächlich in dem zweiten Steuerbescheid erfasst worden oder dieser zweite Steuerbescheid überhaupt ergangen ist. Nach dem Tatbestand genügt es, dass die Finanzbehörde der Ansicht war, der Sachverhalt müsse in einem zweiten Steuerbescheid erfasst werden.[14]

 

Rz. 107

Der Begriff des Sachverhalts ist für alle Tatbestände des § 174 AO einheitlich auszulegen.[15] Zum Begriff des Berücksichtigtseins vgl. Rz. 42.

[1] BFH v. 27.10.2020, VIII R 19/18, BStBl II 2021, 819, BFH/NV 2021, 591, Rz. 29; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 174 AO Rz. 30.

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