Rz. 92

Abs. 3 erfasst im Gegensatz zu Abs. 1 und 2 die Fälle, in denen ein bestimmter Sachverhalt bei einer Steuerfestsetzung nicht berücksichtigt worden ist, weil die Finanzbehörde erkennbar von der Ansicht ausgegangen ist, dieser Sachverhalt müsse bei einer anderen Steuerfestsetzung (über eine andere Steuerart, für einen anderen Besteuerungszeitraum oder gegenüber einem anderen Stpfl.) berücksichtigt werden. Bestimmter Sachverhalt ist der einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgerungen knüpft. Es kann sich um einzelne steuererhebliche Tatsachen oder Merkmale, aber auch um einheitliche, für die Besteuerung maßgebliche Sachverhaltskomplexe handeln.[1] Es muss sich um einen identischen Sachverhalt handeln, bei dem nur die zeitliche Erfassung in dem einen oder dem anderen Steuerbescheid zweifelhaft ist. Geht das FA bei der Steuerfestsetzung davon aus, dass dieser identische bestimmte Sachverhalt erst in einer späteren Steuerfestsetzung zu berücksichtigen sei, obwohl er doch in dieser Steuerfestsetzung zu berücksichtigen war, kann eine Änderung der Steuerfestsetzung nach Abs. 3 erfolgen.[2]

 

Rz. 92a

Es muss also ein "negativer Widerstreit" der Steuerfestsetzungen vorliegen, weil die Finanzbehörde den Sachverhalt in dem einen Steuerbescheid nicht erfasst hat, weil sie fälschlich davon ausgegangen ist, der Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen.[3]

Allerdings ist das nicht so zu verstehen, dass der Sachverhalt ohne die Änderung nach Abs. 3 überhaupt nicht berücksichtigt worden ist. Es genügt, dass der Sachverhalt in dem ersten Bescheid erkennbar nicht abschließend erfasst worden ist, sondern dass das FA davon ausgegangen ist, dass bestimmte Wirkungen in anderen Bescheiden zu berücksichtigen sind. Das ist etwa der Fall, wenn das FA eine Einnahme in dem ersten Bescheid nur anteilig berücksichtigt, weil es davon ausgegangen ist, dass die weiteren Teile der Einnahme über mehrere Jahre gestreckt zu erfassen sind. Ein weiteres Beispiel ist etwa AfA-Minderung wegen einer steuerfreien Einnahme im ersten Jahr unter der Annahme, dass auch in den Folgejahren entsprechende AfA-Minderungen zu berücksichtigen sind. Damit wird auch die unrichtige periodisch gestreckte Berücksichtigung anstelle der richtigen einmaligen und punktuellen Berücksichtigung von Abs. 3 erfasst, sowie der umgekehrte Fall.[4]

 

Rz. 92b

Die Annahme, dass die Berücksichtigung in einem anderen Steuerbescheid erfolgen müsse, muss sich auf einen Steuerbescheid beziehen. Das ist auch der Fall, wenn die Berücksichtigung nicht in einem förmlichen Steuerbescheid, sondern in einer Steueranmeldung zu erfolgen hat. Die Steueranmeldung hat nach § 168 AO die Wirkung einer Steuerfestsetzung und ist daher "Steuerbescheid" i. S. d. § 174 Abs. 3 AO.[5]

 

Rz. 92c

"Berücksichtigt" ist ein Sachverhalt in einem Steuerbescheid, wenn aus ihm steuerliche Konsequenzen gezogen und in den Tenor des Steuerbescheids, also in den Ausspruch über die Höhe der Steuer, einbezogen worden sind. "Nicht berücksichtigt" ist der Sachverhalt dementsprechend, wenn er keinerlei Auswirkungen auf die Steuerfestsetzung hatte und dies nicht nur deshalb der Fall ist, weil die Finanzverwaltung den Sachverhalt für nicht steuerbar angesehen hat. Das gilt auch, wenn die Steuerfestsetzung unterbleibt. Führt ein Sachverhalt daher nur deshalb nicht zur Steuerfestsetzung, weil die Finanzbehörde ihn in einem anderen Steuerbescheid berücksichtigen will, ist der Sachverhalt durch diese Entscheidung bei der Steuerfestsetzung "berücksichtigt".[6] Es ist aber Voraussetzung, dass die Nichtberücksichtigung des Sachverhalts kausal darauf beruht, dass die Finanzbehörde von der Berücksichtigung in einem anderen Steuerbescheid ausging. Das ist nicht der Fall, wenn die Finanzbehörde den Sachverhalt nicht kannte oder davon ausging, dass er überhaupt nicht, also auch nicht im Rahmen einer anderen Steuerfestsetzung, steuerbar ist.

 

Rz. 92d

Rechtsgrund für die Durchbrechung der Bestandskraft ist der Umstand, dass der Stpfl. aufgrund der Annahmen der Finanzverwaltung darauf vertrauen durfte bzw. damit rechnen musste, dass der Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid berücksichtigt werden würde.[7] Wirkt sich dieser Sachverhalt zuungunsten des Stpfl. aus, muss er damit rechnen, dass er insoweit noch zu einer Steuer herangezogen wird. Wirkt sich der Sachverhalt zu seinen Gunsten aus, kann er darauf vertrauen, dass dieser Sachverhalt noch zu einer Steuerermäßigung führen wird. Stellen sich die Annahmen der Finanzverwaltung später als unrichtig heraus, haben die Prinzipien der Richtigkeit der Steuerfestsetzung bzw. von Treu und Glauben Vorrang vor der Rechtssicherheit und der Bestandskraft. Daher ermöglicht Abs. 3 die Berücksichtigung des Sachverhalts durch Änderung des Steuerbescheids, in dem der Sachverhalt richtigerweise hätte berücksichtigt werden müssen.

Dagegen soll § 174 Abs. 3 AO für eine Änderung zugunsten des Stpfl. nach der Rechtsprechung nicht anwendbar sein, wenn er keinen Vertrauen...

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