Rz. 5

Die Tatbestände des § 174 Abs. 1-5 AO erfassen Steuerbescheide. Nach dieser Vorschrift können Steuerbescheide also geändert und, in den Tatbeständen des § 174 Abs. 3-5 AO, auch erstmals erlassen werden. Soweit es um den erstmaligen Erlass von Steuerbescheiden geht, ist § 174 AO systematisch nicht richtig eingeordnet. Es handelt sich insoweit nicht um Fragen der Bestandskraft und ihrer Durchbrechung, sondern um die Durchbrechung der Festsetzungsfrist durch eine erstmalige Steuerfestsetzung. Aus praktischen Gründen ist die Zusammenfassung beider Fälle, Durchbrechung der Bestandskraft und erstmalige Steuerfestsetzung, in § 174 AO jedoch sachgerecht.

 

Rz. 6

Anwendbar ist § 174 AO auf alle Steuerfestsetzungen (vgl. jedoch Rz. 9); zum Begriff vgl. Frotscher, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 155 AO Rz. 21ff. Ebenfalls anwendbar ist § 174 AOauf alle Bescheide, die wie Steuerfestsetzungen behandelt werden, insbesondere also die Feststellungsbescheide; vgl. im Einzelnen zu den den Steuerbescheiden gleichgestellten Bescheiden: Frotscher, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 155 AO Rz. 13. Nicht anwendbar ist § 174 AO dagegen auf Haftungsbescheide[1], da für diese die Vorschriften für Steuerbescheide nicht gelten. Einander widersprechende Haftungsbescheide können daher nur nach §§ 130, 131 AO richtig gestellt werden.

 

Rz. 7

§ 174 AO ist auch anwendbar, wenn die Besteuerungsgrundlagen durch Schätzung, § 162 AO, ermittelt wurden. Allerdings ist dann zu prüfen, ob der fragliche Sachverhalt in den geschätzten Besteuerungsgrundlagen berücksichtigt ist. Im Ergebnis wird es nur zu einer Änderung nach § 174 AO kommen können, wenn ein Fehler vorliegt, der außerhalb des gewöhnlichen Unsicherheitsrahmens einer Schätzung liegt.[2]

 

Rz. 8

§ 174 AO behandelt das Verhältnis zwischen zwei Steuerfestsetzungen, von denen eine fehlerhaft ist. Fehlerhaftigkeit bedeutet Anfechtbarkeit. Ist eine der beiden Steuerfestsetzungen nichtig, liegt das in § 174 AO vorausgesetzte Kollisionsverhältnis zwischen zwei Steuerfestsetzungen nicht vor. Die nichtige Steuerfestsetzung hat keine Rechtswirkungen, kann also auch nicht mit einer anderen Steuerfestsetzung kollidieren. Soweit eine der beiden Steuerfestsetzungen nichtig ist, ist § 174 AO daher nicht anwendbar.[3]

 

Rz. 9

Seiner systematischen Stellung nach ist § 174 AO auf Zoll- und Verbrauchsteuerbescheide nicht anwendbar. § 172 Abs. 1 Nr. 2d AO verweist nur für andere Steuerbescheide (über Besitz- und Verkehrsteuern sowie Realsteuern) auf andere Änderungsmöglichkeiten – und damit auf § 174 AO. Vgl. jedoch Frotscher, in Schwarz/Pahlke/Keß, AO/FGO, § 172 AO Rz. 16.

 

Rz. 9a

§ 174 Abs. 1, 2 AO ist aus dem Grundsatz des Beschränkungsverbots auch anwendbar im Verhältnis inländischer zu Steuerbescheiden der EU- und EWR-Finanzbehörden. Die AO, und damit auch § 174 AO, ist nach § 1 AO zwar auf ausländische Steuerbescheide nicht unmittelbar anwendbar. Allerdings würde die Versagung der Änderungsmöglichkeit, wenn ein Widerstreit mit einem EU- oder EWR-Steuerbescheid vorliegt, eine grenzüberschreitende Einkunftserzielung verfahrensrechtlich ungünstiger behandeln als eine rein innerstaatliche Einkunftserzielung. Das widerspricht dem Beschränkungsverbot. Im Wege der europarechtskonformen Auslegung ist die Änderungsmöglichkeit daher auf widerstreitende Steuerfestsetzungen im Verhältnis zu Steuerbescheiden, die durch EU- oder EWR-Steuerbehörden erlassen wurde, auszudehnen.[4] Auch in diesen Fällen muss ein "bestimmter Sachverhalt" in dem ausländischen und dem deutschen Steuerbescheid in unvereinbarer Weise berücksichtigt worden sein; zu diesem Merkmal Rz. 56b. Die Vorschrift setzt weiter voraus, dass der Bescheid des einen Staates unzweifelhaft in die Besteuerungskompetenz des anderen Staates eingreift. Sie ist nicht anwendbar, wenn die Abgrenzung der Besteuerungskompetenzen streitig ist, also bei Unstimmigkeiten zwischen den Staaten über die Abgrenzung der Besteuerungsrechte.[5] Daher ist die Vorschrift zur Lösung von Verständigungs- oder Schiedsverfahren nicht anwendbar; insoweit greift § 175a AO, nicht § 174 AO ein. Ebenfalls nicht anwendbar ist § 174 AO, wenn die Erfassung in zwei Steuerbescheiden zutreffend ist, weil die Besteuerungsrechte der beiden Staaten nicht zutreffend abgegrenzt worden sind, sondern eine Doppelbesteuerung bestehen bleibt. Dann sind beide Bescheide rechtmäßig, sodass keine Änderung nach § 174 AO erfolgen kann.

Im Verhältnis zu Drittstaaten gilt dies nicht; hier begrenzt § 1 AO den Geltungsbereich des § 174 AO zulässigerweise auf das Inland. Eine Ausnahme liegt nur vor, wenn ein Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit, Art. 63 AEUV, vorliegt. Da die Kapitalverkehrsfreiheit auch für Drittstaaten gilt, ist auch insoweit eine ausdehnende Interpretation des § 174 AO erforderlich. Vgl. auch Rz. 56a.

 

Rz. 9b

Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 174 AO auf EU-/EWR-Fälle gilt nur für Änderungen zugunsten des Stpfl. Aus dem Beschränkungsverbot lässt sich keine Ausweitung der Änderungsmöglichkeit besta...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Kanzlei-Edition. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge