Rz. 74

Die Tatsache muss steuererheblich (rechtserheblich) sein. Der Begriff der Rechtserheblichkeit hat eine doppelte Bedeutung. In der ersten Bedeutung sind Tatsachen rechtserheblich, wenn sie zu einer Änderung der Besteuerungsgrundlagen und damit der Steuer führen. Die Steuererheblichkeit muss gegenüber dem Stpfl., nicht gegenüber einem Dritten bestehen.[1] Maßgeblich sind die Auswirkungen bei jeder einzelnen Steuerart und dem einzelnen Veranlagungszeitraum. In dieser Bedeutung ist das Merkmal der Rechtserheblichkeit selbstverständlich, da Tatsachen, deren Berücksichtigung nicht zu einer Änderung der vom FA berücksichtigten Bemessungsgrundlage führen, die Änderung der Steuerfestsetzung nicht rechtfertigen können.

 

Rz. 74a

In der zweiten Bedeutung muss die Unkenntnis der Finanzbehörde von den Tatsachen im Zeitpunkt der Entscheidung über den Steueranspruch rechtserheblich gewesen sein. Rechtserheblichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn das zuständige FA bei rechtzeitiger Kenntnis der neuen Tatsachen die Steuer anders festgesetzt hätte. Das Kriterium der Rechtserheblichkeit der neuen Tatsachen soll ausschließen, dass die neue Tatsache nur zum Vorwand genommen wird, um eine geänderte Rechtsauslegung anzuwenden.[2] Die Steuererheblichkeit ist dabei nicht objektiv zu bestimmen, also in der Weise, dass maßgeblich ist, ob die neue Tatsache bei rechtzeitiger Kenntnis und bei richtiger Anwendung des Gesetzes zu einer anderen Steuerfestsetzung geführt hätten, sondern "subjektiv", also danach, ob das FA bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache eine andere Steuer festgesetzt hätte. Eine Änderung nach § 173 AO erfolgt also nur, wenn das FA, hätte es die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen schon bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung gekannt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.[3] Eine Änderung der Steuerfestsetzung ist andererseits nicht zulässig, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das FA auch bei Kenntnis der "neuen" Tatsachen nicht zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, sei es aus rechtlichen Gründen, die sich nachträglich als unrichtig herausgestellt haben, sei es, weil es die Tatsachen aus damaliger Sicht als unbeachtlich eingestuft hätte. Ebenfalls keine Rechtserheblichkeit liegt vor, wenn das FA schon auf der Grundlage der ihm bei der Steuerfestsetzung bekannten Tatsachen zu der richtigen Steuerfestsetzung hätte kommen müssen, die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen bei objektiver Betrachtung für das FA also keine Basis für eine Änderung seiner Rechtsauffassung gebildet hätten.[4]

 

Rz. 74b

Rechtserheblich muss die fehlende Kenntnis der neuen Tatsachen für die Entscheidung der Finanzbehörde gewesen sein. Das bedeutet, dass nur auf die Entscheidung der Finanzbehörde abzustellen ist, nicht darauf, wie ein Gericht voraussichtlich entschieden hätte.

 

Rz. 75

Hätte das FA auch bei Kenntnis der neuen Tatsachen oder Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht anders entschieden, d. h., wäre die Entscheidung auch bei vollständiger Kenntnis des Sachverhalts ebenso ergangen, wie es geschehen ist, ist die Entscheidung zwar falsch, die Unrichtigkeit beruht aber nicht ursächlich auf dem Unbekanntsein der Tatsachen.[5] In diesen Fällen beruht die Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung auf einer unrichtigen Anwendung des Rechts, die durch § 173 AO nicht beseitigt werden kann.

 

Rz. 76

Der Ansicht von der Notwendigkeit der Rechtserheblichkeit der neuen Tatsache in der "subjektiven" Form, wie der BFH a. a. O. (Rz. 74) sie formuliert hat, ist zuzustimmen. Das Merkmal der Rechtserheblichkeit stellt sicher, dass eine Änderung der Steuerfestsetzung nur erfolgt, wenn allein die Unkenntnis der Finanzbehörde von den "neuen" Tatsachen die Ursache der unrichtigen Steuerfestsetzung war, nicht aber andere Bearbeitungs- oder Rechtsfehler der Finanzbehörde.[6] Eine Änderung nach § 173 AO ist nur gerechtfertigt, wenn die Fehlerhaftigkeit des Bescheids ursächlich auf dem Nichtbekanntsein der Tatsache beruht, also nicht ursächlich auf eine falsche Rechtsanwendung durch das FA zurückzuführen ist. Eine bloße Fehlerhaftigkeit der Steuerfestsetzung, ohne Rücksicht darauf, was diese Fehlerhaftigkeit verursacht hat, genügt nicht. § 173 AO bietet keine Rechtsgrundlage dafür, die Steuerfestsetzung auf eine geänderte oder bessere Rechtsansicht zu stützen.[7] Der rechtfertigende Grund für die Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173 AO ist daher nicht die Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung, sondern der Umstand, dass das FA bei seiner Entscheidung nicht von dem vollständigen bzw. richtigen Sachverhalt ausgegangen ist. Eine Änderung ist daher nur dann gerechtfertigt, wenn das FA bei Kenntnis des vollständigen Sachverhalts eine richtige Steuerfestsetzung erlassen hätte, die Unkenntnis der Finanzbehörde von dem richtigen Sachverhalt also ursächlich für die falsche Steuerfestsetzung war. Hätte die Finanzbehörde auch bei vollständiger Kenntnis des Sachverhalts ebenso ent...

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