Rz. 51

Eine Tatsache, deren nachträgliches Bekanntwerden eine Aufhebung oder Änderung einer Steuerfestsetzung rechtfertigt, kann auch in einem steuerlichen oder nicht steuerlichen Rechtsverhältnis bestehen, das präjudiziell ist. "Präjudiziell" i. d. S. bedeutet, dass der fragliche Vorgang für eine bestimmte Steuerfestsetzung (bestimmte Steuerart, bestimmter Vz) maßgeblich ist, die Entscheidung über diesen Vorgang primär aber nicht in dem Verfahren über die Steuerfestsetzung, sondern in einem speziell für diesen Vorgang geltenden eigenständigen Verfahren zu erfolgen hat. Bei der Steuerfestsetzung ist dann das Ergebnis dieses eigenständigen Verfahrens zu übernehmen. Lediglich wenn eine solche Entscheidung des präjudiziellen Rechtsverhältnisses (noch) nicht vorliegt, kann stattdessen im Rahmen der Steuerfestsetzung über das präjudizielle Rechtsverhältnis entschieden werden.

 
Praxis-Beispiel

Für eine Steuerfestsetzung ist von Bedeutung, ob ein bestimmtes Rechtsverhältnis Kauf oder Miete ist. Damit ist dieses zivilrechtliche Verhältnis für die Steuerfestsetzung präjudiziell. Soweit noch keine zivilrechtliche Entscheidung der Frage, ob es sich um Kauf oder Miete handelt, vorliegt, kann im Rahmen der Steuerveranlagung inzidenter darüber entschieden werden, ob es sich um Kauf oder Miete handelt. Liegt dagegen schon ein zivilrechtliches Urteil über diese Frage vor, muss die Finanzverwaltung von dieser Entscheidung ausgehen.

 

Rz. 52

Das präjudizielle Rechtsverhältnis kann steuerlicher oder sonstiger Natur sein (zivil-, arbeits-, sozial-, verwaltungsrechtlich). Häufig kann es sich empfehlen, die Steuerfestsetzung nach § 165 AO nur vorläufig vorzunehmen. Zu ausländischen Rechtsnormen vgl. Rz. 21.

 

Rz. 53

Präjudizielles Rechtsverhältnis und damit Tatsache für eine Steuerart kann das Bestehen oder Nichtbestehen einer Steuer aus einer anderen Steuerart oder einem anderen Besteuerungszeitraum sein.[1]

Zur Frage, ob die Änderung der Steuerschuld einer bestimmten Steuerart (z. B. USt) eine neue Tatsache für eine andere Steuerart sei (z. B. USt-Rückstellung in der Bilanz), ist die Rspr. davon ausgegangen, dass es sich lediglich um eine Folgewirkung, keine Tatsache, handle.[2] Diese Auffassung lässt sich nicht aufrechterhalten. Die Höhe einer Steuer ergibt sich zwar aus Rechtserwägungen, objektiv ergibt sie sich aber aus dem Gesetz und entsteht zu einem bestimmten Stichtag in der gesetzlich angeordneten Höhe. Die nach dem Gesetz entstandene Steuer stellt daher durchaus eine Tatsache dar und kann tatbestandsmäßige Voraussetzung für die Berechnung einer anderen Steuer sein (z. B. Rückstellung für die Ertragsteuern). Auf die Festsetzung der Steuer sowie auf mögliche abweichende Rechtsauslegungen kommt es nicht an. Allerdings führt die Tatbestandswirkung des Steuerbescheids dazu, dass nicht mehr argumentiert werden kann, die Steuer sei in einer anderen Höhe entstanden.

 

Rz. 54

I. d. R. hat der Stpfl. auch kein Wahlrecht, ob er die Mehrsteuern im Jahr ihres Entstehens passivieren will. Wenn er nach dem Erkenntnisstand des Zeitpunkts der Bilanzaufstellung unter Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns mit den Mehrsteuern rechnen musste, besteht eine Passivierungspflicht. Das Bestehen einer Tatsache kann also nicht deshalb verneint werden, weil die Passivierung im Willen des Stpfl. liege. Eine Änderung nach § 173 AO ist daher auch insoweit möglich.[3]

 

Rz. 55

Hiergegen vertritt Loose, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rz. 6 eine differenzierende Auffassung. Bei steuerlichen Vorfragen soll es sich dann nicht um Tatsachen i. S. v. präjudiziellen Rechtsverhältnissen handeln, wenn die Steuerbehörde, die die Steuerfestsetzung vornimmt, auch zur Entscheidung über den präjudiziellen Steueranspruch zuständig ist (z. B. die Behörde, die den ESt-Bescheid erlässt, ist auch für die USt, die über die Rückstellung in der Bilanz Einfluss auf die Höhe der Einkünfte hat, zuständig), da es sich insoweit nur um eine juristische Subsumtion handele. Sei dagegen eine andere Finanzbehörde für die Entscheidung über das präjudizielle Rechtsverhältnis zuständig, soll es sich bei Entscheidungen dieser anderen Behörde um nachträglich bekannt werdende Tatsachen i. S. v. § 173 AO handeln können.

 

Rz. 56

M. E. ist diese Unterscheidung nicht sachgerecht. Sie stellt nicht auf innere Sachgesetzlichkeiten, sondern auf die häufig von Zufällen abhängige örtliche und sachliche Zuständigkeit ab. Entscheidend sollte nur sein, ob die Frage zum Regelungsbereich der fraglichen Steuer selbst gehört, ob es sich also z. B. bei der ESt-Veranlagung um eine einkommensteuerliche Frage handelt, die im Rahmen dieser Veranlagung zu entscheiden ist, oder ob es sich um den Regelungsbereich einer anderen Steuerart (USt-Rückstellung bei der ESt-Veranlagung) oder eines anderen Besteuerungszeitraums handelt. Entsprechendes gilt auch für den Ansatz eines Steuererstattungsanspruchs.[4] Auch solche steuerlichen Verhältnisse liegen außerhalb der fraglichen Steuerart bzw. des jeweiligen Besteuerungs...

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