Rz. 52

Nach Abs. 1 S. 2 Nr. 4 kann die Steuerfestsetzung vorläufig ergehen oder ausgesetzt werden, wenn die Auslegung eines Steuergesetzes Gegenstand eines Verfahrens vor dem BFH ist. Bei dem Verfahren vor dem BFH handelt es sich, im Gegensatz zu dem Tatbestand der Nr. 3, um einfachgesetzliche Rechtsfragen. Die Vorschrift ist durch Art. 17 des Gesetzes v. 20.12.2008, BStBl I 2009, 124 eingeführt worden und gilt für alle Verwaltungsentscheide, d. h. Steuerfestsetzungen und Einspruchsentscheidungen ab dem 1.1.2009.[1]

 

Rz. 53

Die Vorschrift dient der Entlastung von Stpfl. und Finanzverwaltung. Obwohl der BFH nur den jeweiligen Einzelfall entscheidet, haben seine Urteile regelmäßig darüber hinausgehende Bedeutung. Da das Steuerrecht regelmäßig zu Massenverfahren führt, bei denen die gleiche Rechtsfrage hinsichtlich der Auslegung der Steuergesetze in einer Vielzahl von Steuerfestsetzungen zu beantworten ist, haben Entscheidungen des BFH häufig den Charakter von Musterentscheidungen, die nicht nur in dem entschiedenen Fall, sondern in einer Vielzahl von weiteren Fällen umzusetzen ist. Schwebt ein Verfahren vor dem BFH, das den Charakter eines Musterverfahrens hat, könnte der Stpfl. die Berücksichtigung einer möglicherweise für ihn günstigen BFH-Entscheidung über den entschiedenen Einzelfall hinaus nur erreichen, indem er gegen die Steuerfestsetzung Einspruch einlegt und entweder das Verfahren als weiteres Musterverfahren betrieben oder die Entscheidung über den Einspruch nach § 363 Abs. 2 S. 2 AO zurückgestellt wird. Dies erfordert aber in jedem einzelnen der Fälle des Massenverfahrens einen Einspruch. Um insoweit die Stpfl. und die Finanzbehörde von unnötigem Verwaltungsaufwand zu entlasten, ermöglicht es Abs. 1 S. 2 Nr. 4, die betroffenen Steuerfestsetzungen vorläufig vorzunehmen und damit den Ausgang des Musterverfahrens abzuwarten. Zum Verhältnis der Vorläufigkeit nach § 165 AO zum Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 S. 1 AO vgl. Rz. 51.

 

Rz. 54

Die Vornahme einer vorläufigen Steuerfestsetzung ist nur möglich, wenn im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung oder im Zeitpunkt der entsprechenden Einspruchsentscheidung das Musterverfahren bereits bei dem BFH rechtshängig ist. Das ist der Fall ab Einlegen einer zulässigen Revision. Eine Nichtzulassungsbeschwerde führt nicht zur Rechtshängigkeit i. d. S. Das Verfahren ist vielmehr erst ab Zulassung der Revision rechtshängig i. d. S. Ein Verfahren vor dem großen Senat des BFH ist ein Verfahren vor dem BFH und fällt daher unter den Tatbestand. Ein Verfahren vor dem Gemeinsamen Senat der obersten Bundesgerichte ist jedoch kein Verfahren vor dem BFH; hier ist auf das Verfahren bei dem BFH abzustellen, das zur Vorlage an den Gemeinsamen Senat geführt hat. § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AO ist also nicht anzuwenden, wenn die Vorlage an den Gemeinsamen Senat nicht auf einem Verfahren vor dem BFH beruht, sondern auf dem Verfahren bei einem anderen obersten Bundesgericht. Die Vorschrift ist auch anwendbar, wenn der BFH eine Frage dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt hat und nach dessen Entscheidung weitere einfachgesetzliche Grundsatzfragen zu entscheiden sind. Dann tritt die Vorläufigkeit sowohl nach Abs. 1 S. 2 Nr. 3 als auch nach Nr. 4 ein. Ein Musterverfahren vor dem FG oder ein Verwaltungsverfahren genügen nicht, auch wenn die Parteien beabsichtigen, das Verfahren als Musterverfahren bis zum BFH fortzuführen. Entsprechend genügt auch eine Absicht, ein Gerichtsverfahren als Musterverfahren anzustrengen, nicht für die Vorläufigkeit.

 

Rz. 55

Ob die Steuerfestsetzung wegen eines anhängigen Verfahrens für vorläufig erklärt wird, entscheidet die Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen. Das BMF hat als Ermessensrichtlinie angeordnet, dass Steuerfestsetzungen wegen eines anhängigen Verfahrens nur dann vorläufig vorzunehmen sind, wenn und soweit das BMF oder die obersten Finanzbehörden der Länder dies durch BMF-Schreiben oder koordinierten Ländererlass angewiesen haben.[2] Dies sichert die gleiche Behandlung der Verfahren und stellt daher eine angemessene Lösung dar. Die Ermessensrichtlinie hält sich daher im Rahmen des § 5 AO. Ein Rechtsanspruch des Stpfl. auf Vorläufigkeit aus einer Ermessensreduzierung auf Null besteht nicht, da offen ist, ob es zu einer für den Stpfl. günstigen Entscheidung des BFH in dem Musterverfahren kommen wird. Außerdem ist unklar, ob das BMF die Entscheidung für allgemein anwendbar erklärt oder einen Nichtanwendungserlass herausgibt. Das unterscheidet diesen Fall von denen des Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 2, wo diese Möglichkeiten nicht bestehen.

 

Rz. 56

Der Vorläufigkeitsvermerk bezieht sich regelmäßig nicht auf ein bestimmtes Verfahren. Vielmehr wird der Steuerbescheid hinsichtlich bestimmter Besteuerungsgrundlagen für vorläufig erklärt. In diesem Fall ist die Vorläufigkeit nicht beschränkt auf das bei Ergehen des Bescheids bereits anhängige Verfahren, sondern bezieht auch Verfahren ein, die später, aber innerhalb der zeitlichen Geltungsdauer des Vorläufigkeitsvermerks, h...

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