Rz. 19

Nach § 90 Abs. 1 AO hat der Beteiligte die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenzulegen. § 150 Abs. 2 AO überträgt dieses Gebot auf die Steuererklärungspflicht.[1] Das Vollständigkeitsgebot und die Wahrheitspflicht treffen den Erklärungspflichtigen auch dann, wenn er sich bei der Erstellung der Steuererklärung eines Erfüllungsgehilfen bedient.[2] Der Erklärungspflichtige ist zur sorgfältigen Auswahl und zur Überwachung des Erfüllungsgehilfen verpflichtet. Der Erklärungspflichtige muss sich auch insoweit Verschulden des Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen.[3] Die leichtfertige Verletzung der Überwachungspflicht kann eine bußgeldrechtliche Ahndung nach § 378 AO bzw. § 130 OWiG zur Folge haben. Ehegatten bei der Zusammenveranlagung sind, auch wenn man für die Erfüllung der Steuererklärungspflicht eine gemeinsame Verantwortung annimmt[4], hinsichtlich des Vollständigkeitsgebots und der Wahrheitspflicht steuerlich nicht zur wechselseitigen Kontrolle verpflichtet.

 

Rz. 20

Der Beteiligte braucht nur die im Erklärungsvordruck rechtmäßig geforderten Angaben (Rz. 7ff.) zu machen. Er ist nach § 150 Abs. 2 AO nicht verpflichtet, seine Rechtsauffassung darzulegen. Dies gilt auch dann, wenn er von Entscheidungen des BFH, von Verwaltungsanordnungen oder von der überwiegenden Literaturmeinung abweicht.[5] Gleichwohl erscheint die Kenntlichmachung gravierender Abweichungen gerade von Entscheidungen des BFH sowie der Verwaltungsauffassung geboten, damit sich der Beteiligte nicht der Gefahr steuerstraf- bzw. ordnungswidrigkeitenrechtlicher Verfolgung aussetzt. Das bewusste – nicht dokumentierte – Abweichen von einer gefestigten höchstrichterlichen Rspr. kann als bedingter Vorsatz gewertet werden, sodass der subjektive Tatbestand der Steuerhinterziehung[6] gegeben ist.[7]

 

Rz. 21

Das Vollständigkeitsgebot hindert den Beteiligten indes nicht, seinen Angaben zusätzliche Erläuterungen beizufügen, zumal er sich hierdurch ggf. gegen eine spätere Korrektur der Steuerfestsetzung nach § 173 AO schützen kann.[8] Unter diesem Gesichtspunkt sind auch "vorläufige" Steuererklärungen zu werten, die die AO indes nicht kennt.[9] Der Beteiligte erläutert durch diese Bezeichnung i. d. R., dass er bestimmte Angaben in der Erklärung noch nicht endgültig machen kann.[10] Die Steuererklärungspflicht wird, wenn die Erklärung im Übrigen nach Form und Inhalt den gesetzlichen Anforderungen entspricht, auch durch eine "vorläufige" Steuererklärung erfüllt.[11]

[1] BFH v. 14.1.1998, X R 84/95, BStBl II 1999, 203; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 150 AO Rz. 43.
[2] Heuermann, in HHSp, AO/FGO, § 150 AO Rz. 22.
[5] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 150 AO Rz. 47.
[6] § 370 AO; vgl. auch Klein/Rätke, AO, 16. Aufl. 2022, § 150 Rz. 30f.
[7] OLG Köln v. 13.10.1953, Ss 262/53, MDR 1954, 374; s. § 370 AO Rz. 125; Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 150 AO Rz. 44 zumindest für Angehörige steuerberatender Berufe.
[8] FG München v. 16.12.1994, 10 K 1524/94, EFG 1995, 553; s. § 173 AO Rz. 137.
[9] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 150 AO Rz. 52.
[10] FG des Saarlandes v. 26.8.2009, 1 K 1197/06, Haufe-Index 2379523 zur daraus resultierenden Schätzungsbefugnis; Stöcker, in Gosch, AO/FGO, § 150 AO Rz. 24.
[11] BFH v. 6.11.1969, IV 249/64, BStBl II 1970, 168; FG Münster v. 17.8.1989, V 914/85 U, EFG 1990, 89; s. § 152 AO Rz. 18.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Kanzlei-Edition. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge