1 Allgemeines

1.1 Geltungsbereich

 

Rz. 1

§§ 130, 131 AO sind §§ 48, 49 VwVfG nachgebildet; vgl. auch §§ 44, 45 SGB X. Sie regeln die Durchbrechung der Bestandskraft außerhalb des Rechtsbehelfsverfahrens.[1] Erfasst werden nur Verwaltungsakte, die nicht nach § 125 AO nichtig[2] und deren Fehler nicht nach § 126 AO geheilt worden sind. Ist ein Fehler nach § 127 AO unbeachtlich, kann der Betroffene die Rücknahme des Verwaltungsakts zwar nicht verlangen, die Behörde kann ihn aber zur Beseitigung des Fehlers zurücknehmen. In diesem Rahmen ist § 130 AO anwendbar. § 130 AO ist dabei die Norm für die Rücknahme von Verwaltungsakten, ohne dass es sich dabei um Steuerbescheide handelt (z. B. Freistellungsbescheinigungen). Steuerbescheide können gem. §§ 172ff. AO korrigiert werden. So ist der Bescheid über die Anrechnung von KapESt auf die Einkommen- oder KSt gem. § 130 AO zu ändern, während der Einkommen- oder Körperschaftsteuerbescheid gem. §§ 172ff. AO zu korrigieren ist[3]; ebenso ein Bescheid über einen Verspätungszuschlag.[4]

Die Rücknahme nach § 130 AO erfolgt[5] nur durch die Verwaltungsbehörde. Die Aufhebung angefochtener Verwaltungsakte durch Urteil des FG richtet sich nicht nach §§ 130, 131 AO, sondern nach § 100 FGO. Diese Vorschrift ist aber nur anwendbar, wenn die Aufhebung durch das Gericht erfolgt. Soll der Verwaltungsakt während des finanzgerichtlichen Verfahrens durch die Verwaltungsbehörde aufgehoben werden, sind §§ 130, 131 AO anwendbar.[6]

 

Rz. 2

Da häufig nur schwer festzustellen ist, ob ein Verwaltungsakt nichtig oder nur rechtswidrig ist, können auch nichtige Verwaltungsakte nach § 130 Abs. 1 AO zurückgenommen werden.[7] Verwaltungsakte können zurückgenommen oder widerrufen werden, wenn sie bereits bestandskräftig sind.

§§ 130, 131 AO finden grundsätzlich auf alle Steuerverwaltungsakte Anwendung, und daher auch auf Einspruchsentscheidungen und für die Beifügung oder Aufhebung von Nebenbestimmungen.

§§ 130, 131 AO finden nur Anwendung, soweit nicht abschließende Sonderregelungen bestehen, also z. B. nicht für Steuerbescheide und Verwaltungsakte, die wie Steuerbescheide behandelt werden.[8]

 

Rz. 3

Stundung, Aussetzung und Aufhebung der Vollziehung sind eigenständige Regelungen hinsichtlich der Außerkraftsetzung eines Leistungsgebots, die neben §§ 130, 131 AO stehen. Rücknahme oder Widerruf der Stundung selbst richten sich aber wieder nach §§ 130, 131 AO.

Nicht anwendbar sind §§ 130, 131 AO im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht (z. B. Rücknahme einer Anerkennung einer Selbstanzeige als strafbefreiend).

Nach § 164a StBerG finden §§ 130, 131 AO auch auf Verwaltungsakte Anwendung, die im Rahmen eines Verfahrens nach dem StBerG ergehen.

Rücknahme oder Widerruf sind nicht erforderlich, wenn sich der Verwaltungsakt durch Zeitablauf erledigt hat.

Neben den gesetzlichen Regelungen für die Durchbrechung der Bestandskraft von Verwaltungsakten[9] ist die Durchbrechung der Bestandskraft eines Verwaltungsakts aus sonstigen Gründen, etwa wegen Willensmängeln der Behörde, die keinen gesetzlichen Tatbestand erfüllen, nicht möglich. So führt etwa ein Rechtsfehler einer Behörde beim Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts allein noch nicht zur Rücknahme.

 

Rz. 4

Das Verhältnis des § 130 AO zu § 218 AO ist nicht geklärt. § 218 AO enthält eine Sonderregelung für den Bereich der Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis. Besteht hierüber Streit, muss ein Abrechnungsbescheid ergehen. Ist vor dem Abrechnungsbescheid eine Anrechnungsverfügung ergangen, ist fraglich, ob in dem Verfahren nach § 218 Abs. 2 AO eine Bindung an die Anrechnungsverfügung besteht, die Verwaltungsakt ist[10], ob also die Anrechnungsverfügung erst nach § 130 AO aufgehoben werden muss, bevor über den Abrechnungsbescheid anderweitig entschieden werden kann. Der I. Senat des BFH sieht das Verfahren nach § 218 Abs. 2 AO als vorrangig vor §§ 130, 131 AO an.[11] Diese Ansicht hat zur Folge, dass vor Erlass eines Abrechnungsbescheids im Bereich der Verwirklichung von Steueransprüchen ergangene Entscheidungen und Verwaltungsakte, wie die Anrechnungsverfügungen, nicht aufgehoben zu werden brauchen; eine etwaige Bestandskraft dieser Entscheidungen steht dem Erlass eines Abrechnungsbescheids nicht entgegen. Dagegen hat der VII. Senat entschieden, dass eine Anrechnungsverfügung nach §§ 130, 131 AO aufgehoben werden muss, wenn eine abweichende Entscheidung in dem Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO getroffen werden soll; sonst besteht in dem Verfahren über den Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO eine Bindung an die bestandskräftige Anrechnungsverfügung.[12]

 

Rz. 5

Sowohl der I. als auch der VII. Senat haben entschieden, dass das Verfahren nach § 218 Abs. 2 AO vorrangig sei. Auf der Grundlage der Ansicht des I. Senats ist das konsequent; wenn die Anrechnungsverfügung keine Bindungswirkung entfaltet, hat eine Änderung vor einem Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO keinen Sinn. Die Ansicht des VII. Senats ist insoweit jedoch inkonsequent. Wenn die Anrechnungsverfügung für das V...

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