Entscheidungsstichwort (Thema)

Glaubhaftmachung der rechtzeitigen Posteinlieferung zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Leitsatz (redaktionell)

Wurde der mit dem Poststempel des Aufgabedatums versehene Briefumschlag der Rechtsmittelschrift von den Justizbehörden nicht zu den Akten genommen und ist nur mit diesem die rechtzeitige Aufgabe zur Post nachweisbar, reicht ungeachtet der Zweifel am Vorbringen des Antragstellers dessen eigene schlichte Erklärung als Glaubhaftmachung eines Wiedereinsetzungsgrundes aus.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Beschluss vom 17.08.1994; Aktenzeichen 516 Qs 301/93)

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen einen Beschluß des Landgerichts Berlin, mit dem die sofortige Beschwerde gegen einen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagenden Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten als unbegründet verworfen wurde.

I.

Der Beschwerdeführer ist amerikanischer Staatsangehöriger. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 4. März 1993 – 323 Cs 266/93 –, zugestellt durch Niederlegung am 19. März 1993, wurde gegen ihn wegen eines Vergehens der Körperverletzung eine Geldstrafe in Höhe von 20 Tagessätzen zu je 50 DM sowie ein Fahrverbot für die Dauer von zwei Monaten festgesetzt. Der einen Tag nach der am 2. April 1993 abgelaufenen Rechtsbehelfsfrist eingegangene Einspruch wurde durch Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom 15. April 1993 als unzulässig verworfen. Nach der am 24. April 1993 erfolgten Zustellung dieses Beschlusses teilte der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 26. April 1993 mit, er habe das niedergelegte Schriftstück erst am 27. März 1993 beim Postamt abgeholt. Weiter führte er aus:

„Ich möchte mich hiermit entschuldigen, daß ich es nicht geschafft habe, mich zum befristeten Datum zu dem Vorfall zu äußern. Da ich auch erst jemand finden mußte, der mir hilft, es ins Deutsche zu übersetzen. Ich hoffe sehr, daß Sie meine Entschuldigung annehmen.”

Das Amtsgericht Tiergarten wertete dieses Schreiben als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und verwarf diesen mit Beschluß vom 12. Mai 1993 als unbegründet. Sowohl der Umstand, daß der Beschwerdeführer den Strafbefehl erst am 27. März 1993 bei der Post abgeholt habe, als auch die Tatsache, daß er sein Einspruchsschreiben erst so spät zur Post gebracht habe, daß dieses verspätet eingegangen sei, beruhten allein auf dem Verschulden des Beschwerdeführers.

Gegen diesen Beschluß legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein und führte im wesentlichen aus, er habe den Einspruch am 1. April 1993 gegen 17.45 Uhr in einen Briefkasten eingeworfen, der ausweislich der darauf angegebenen Leerungszeiten am gleichen Tag um 18.15 Uhr geleert wurde. Er habe sich deshalb darauf verlassen können, daß der Brief mit dem Einspruch am nächsten Tag bei Gericht eingehe. Dieser Vortrag wurde durch Vorlage eidesstattlicher Versicherungen des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau glaubhaft gemacht. In der eidesstattlichen Versicherung des Beschwerdeführers heißt es unter anderem:

„Ich ging daher davon aus, daß der Brief rechtzeitig eintreffen würde. In den Vereinigten Staaten ist es ausreichend, daß der Brief den Poststempel von dem letzten Tag der Frist aufweist. Da ich den Brief einen Tag vorher in den Briefkasten geworfen hatte, war ich überzeugt, rechtzeitig meinen Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt zu haben.”

In der eidesstattlichen Versicherung der Ehefrau ist ausgeführt:

„Ich drängelte ihn, das Schreiben noch an diesem Tag in den Briefkasten zu werfen, damit es noch am nächsten Tag, dem Freitag und letzten Tag der Frist, bei Gericht einging. Er nahm den Brief auch mit. Er ging so früh von zu Hause fort, daß er in jedem Fall vor 18.15 Uhr den Brief in den Briefkasten werfen konnte.”

Mit Beschluß vom 1. Juli 1993 verwarf das Landgericht Berlin die sofortige Beschwerde als unbegründet, da sich der Beschwerdeführer nicht darauf habe verlassen können, daß sein am 1. April 1993 um 17.45 Uhr eingeworfener Brief am nächsten Tag bei Gericht eingehen werde, denn es sei bekannt, daß es innerhalb Berlins zu einer Postlaufzeit von bis zu zwei Tagen kommen könne, besonders wenn der Brief erst am Abend eingeworfen werde.

Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde führte zur Aufhebung dieses Beschlusses durch den Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. März 1994 – 2 BvR 2401/93 –. Nach der eingeholten Auskunft der Deutschen Bundespost konnte seinerzeit auch innerhalb Berlins mit einer Postlaufzeit von einem Tag gerechnet werden, so daß dem Beschwerdeführer die Überschreitung dieser üblichen Postlaufzeit nicht als Verschulden zur Last gelegt werden durfte.

Das Landgericht Berlin hat durch den nunmehr mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluß vom 17. August 1994 die sofortige Beschwerde erneut als unbegründet verworfen. In den Gründen ist ausgeführt, die Kammer habe in dem aufgehobenen Beschluß vom 1. Juli 1993 die Glaubhaftigkeit des Vortrags des Beschwerdeführers nicht geprüft. Nachdem sie nunmehr mit der Sache erneut befaßt sei, sehe sie den Vortrag des Beschwerdeführers als nicht glaubhaft an. Bei einem Vergleich des Inhalts des Schreibens vom 26. April 1993 mit dem Inhalt der eingereichten eidesstattlichen Versicherungen falle auf, daß im Wiedereinsetzungsverfahren versucht worden sei, glaubhaft zu machen, daß die Einspruchsfrist in Kenntnis des Fristablaufs bewußt noch am Vorabend des 1. April 1993 in den Briefkasten eingeworfen worden sei, um den Zugang vor Fristablauf sicherzustellen. Treffe dieser Sachverhalt zu, so sei es unverständlich, daß der Beschwerdeführer sich zunächst ausdrücklich dafür entschuldigt habe, die Wahrung der Einspruchsfrist nicht rechtzeitig geschafft zu haben. Diese Äußerung stehe im Widerspruch zu den im Wiedereinsetzungsverfahren nach anwaltlicher Beratung formulierten Erklärungen. Entsprächen diese der Wahrheit, so hätte es nahe gelegen, daß der Beschwerdeführer darauf bereits in seinem Schreiben an das Amtsgericht vom 26. April 1993 hingewiesen und sein Unverständnis über den verspäteten Eingang geäußert hätte.

II.

1. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GG, weil das Landgericht die Anforderungen an die Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand überspannt habe. Seine Auffassung, es bestehe ein Widerspruch zwischen den verschiedenen schriftlichen Erklärungen des Beschwerdeführers im Wiedereinsetzungsverfahren, sei weder nachvollziehbar noch geeignet, die durch die Vorlage der eidesstattlichen Versicherungen begründete Wahrscheinlichkeit des rechtzeitigen Briefeinwurfs zu widerlegen. Die Auffassung des Landgerichts setze nämlich voraus, dem Beschwerdeführer sei bei Abfassung des Entschuldigungsschreibens vom 26. April 1993 bekannt gewesen, daß das deutsche Verfassungsrecht die Zurechnung einer Briefbeförderung durch die Post verbiete. Das Landgericht Berlin überspanne die Anforderungen an die Gewährung von Wiedereinsetzung auch deshalb, weil es nicht berücksichtigt habe, daß die Justizbehörden ihm durch die Vernichtung des Briefumschlags der Einspruchsschrift die Beweisführung ihres Einwurfs am 1. April 1993 unmöglich gemacht haben. Im Blick hierauf habe seine schlichte Erklärung als Mittel der Glaubhaftmachung zugelassen werden müssen.

Schließlich verstoße die Entscheidung gegen den Grundsatz eines rechtsstaatlich fairen Verfahrens und die Gewährung rechtlichen Gehörs. Der Beschwerdeführer habe auf Grund der Fassung des später vom Bundesverfassungsgericht aufgehobenen Beschlusses vom 1. Juli 1993 davon ausgehen dürfen, daß das Landgericht seinen Vortrag auch bei der erneuten Entscheidung als glaubhaft ansehe.

2. Die Senatsverwaltung für Justiz des Landes Berlin hat von einer Stellungnahme abgesehen.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG), weil es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG).

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Der Beschluß des Landgerichts Berlin verletzt die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG.

1. Im Strafbefehlsverfahren ist der Anspruch des Beschuldigten auf ersten Zugang zu Gericht und auf rechtliches Gehör durch die Möglichkeit des Einspruchs gewährleistet. Wird die Einspruchsfrist unverschuldet versäumt, so hängt die Verwirklichung dieser Rechte aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG davon ab, daß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Es ist ein in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefestigter Grundsatz, daß in diesem Fall des summarischen Verfahrens bei der Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden prozessrechtlichen Vorschriften die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht überspannt werden dürfen. Der Grundsatz begrenzt auch die Anforderungen, die nach Fristversäumung an den Vortrag und die Glaubhaftmachung der Versäumungsgründe gestellt werden dürfen (vgl. BVerfGE 26, 315 ≪319, 320≫; 37, 93 ≪97 f.≫; 37, 100 ≪103≫; 38, 35 ≪39≫; 40, 42 ≪44≫).

Hieraus folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß es zur Wahrung der Rechte aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG in bestimmten Fallkonstellationen geboten sein kann, eine „schlichte”, das heißt nicht durch weitere Mittel der Glaubhaftmachung unterstützte Erklärung als geeignet anzusehen, die richterliche Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit des behaupteten Versäumungsgrundes zu begründen (vgl. BVerfGE 26, 315 ≪320≫; 38, 35 ≪39≫). Die volle richterliche Überzeugung von der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen wird ohnehin nicht gefordert. Die schlichte Erklärung eines Antragstellers ist insbesondere dann zur Glaubhaftmachung zuzulassen, wenn andere Mittel der Glaubhaftmachung in der jeweiligen Fallgestaltung nicht zur Verfügung stehen (vgl. BVerfG a.a.O.). Das gilt zumal, wenn bei behördlicher Beförderung von Schriftstücken Vorkehrungen geschaffen werden, durch die der Zeitpunkt der Aufgabe des Schriftstücks zur Beförderung dokumentiert werden soll, diese Vorkehrungen aber versagen und dem Bürger keine anderen Möglichkeiten der Glaubhaftmachung zu Gebote stehen. Das Versagen organisatorischer und betrieblicher Vorkehrungen, auf die der Bürger keinen Einfluß hat, darf ihm im Rahmen der Wiedereinsetzung nicht zur Last gelegt werden (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪26≫; 53, 25 ≪29≫, zur Verzögerung der Postlaufzeit; 62, 216 ≪221≫ zum behördeninternen Abholdienst; zur Glaubhaftmachung bei Verlust eines mit Datumsstempel versehenen Briefumschlags im behördeninternen Bereich vgl. auch OLG Celle, Nds. Rpfl 1986, S. 280 f.; OLG Düsseldorf, NStZ 1990, S. 149 f.). Ist in einem solchen Fall die schlichte Erklärung des Antragstellers zum Zeitpunkt der Abgabe des Schriftstücks nicht von vornherein unglaubhaft, so hat das Gericht bei seiner Überzeugungsbildung den Umstand in Rechnung zu stellen, daß es dem Antragsteller aus Gründen, die in der Sphäre einer Behörde liegen, auf deren Tätigkeit er keinen Einfluß hat, unmöglich ist, eine Tatsache glaubhaft zu machen, die bei fehlendem behördlichen Versagen unschwer aufzuklären wäre (vgl. Beschluß der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Februar 1993 – 2 BvR 390/92 –).

2. Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Umschlag der Einspruchsschrift vom 31. März 1993 wurde vom Amtsgericht nicht zu den Akten genommen. Wäre dies geschehen, hätte anhand des Poststempels festgestellt werden können, ob die Angaben des Beschwerdeführers zum Datum des Einwurfs des Briefes zutreffend sind. Dies war der einzige sichere Beweis, der einem Betroffenen bei der – zur Wahrung der Frist zugelassenen – Einlegung eines fristgebundenen Rechtsbehelfs durch einfache Briefsendung zur Verfügung steht. Das Landgericht hat diesen Umstand bei seinen Ausführungen dazu, daß es das Vorbringen des Beschwerdeführers zum Termin des Einwurfs der Einspruchsschrift nicht für glaubhaft halte, völlig außer Betracht gelassen. Allerdings hat es auch nicht die eigene Erklärung des Beschwerdeführers hierzu von vornherein als zur Glaubhaftmachung ungeeignet zurückgewiesen. Es hat sie vielmehr daraufhin gewürdigt, ob sich aus ihr die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers ergebe. Dabei läßt das Gericht zum einen schon nicht erkennen, ob es davon ausgeht, daß die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers ausreicht und es der vollen richterlichen Überzeugung von der Richtigkeit nicht bedarf. Vor allem aber machen die längeren Ausführungen des Landgerichts zu angeblichen Widersprüchen in den Erklärungen des Beschwerdeführers deutlich, daß das Gericht den Vortrag zum Einwurf des Briefes am 1. April 1993 nicht als von vornherein unglaubhaft gewertet hat.

Hierfür gaben die Erklärungen des Beschwerdeführers auch keine Veranlassung. Sein Schreiben vom 26. April 1993 beschränkte sich auf eine Entschuldigung, ohne das Begehren nach Wiedereinsetzung und Gründe hierfür darzulegen. Es lag – auch mit Rücksicht darauf, daß der Beschwerdeführer Ausländer ist – nahe, daß dieser aus Unkenntnis einer Wiedereinsetzungsmöglichkeit zunächst eine detaillierte Schilderung von Wiedereinsetzungsgründen unterlassen hat und sich schlicht dafür entschuldigte, daß der von ihm einen Tag vor Fristablauf in den Briefkasten geworfene Brief nicht mehr rechtzeitig beim Gericht angekommen ist.

Waren die eigenen Erklärungen des Beschwerdeführers aber nicht von vornherein unglaubhaft, so mußte die Tatsache der Vernichtung des zum Beweis des rechtzeitigen Einwurfs geeigneten Briefumschlags in den Erwägungen des Landgerichts zur Glaubhaftmachung Berücksichtigung finden.

3. Die angegriffene Entscheidung beruht auf diesem Verstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht bei Berücksichtigung des dem Beschwerdeführer nicht anzulastenden Verlustes des Beweismittels eine andere Entscheidung getroffen hätte. Auf die weiteren vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen mußte daher nicht mehr eingegangen werden.

4. Der angegriffene Beschluß des Landgerichts Berlin war daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an eine andere Kammer des Landgerichts Berlin zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

NJW 1995, 2545

StV 1995, 393

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