Leitsatz (amtlich)

Wird die Besetzung einer (hier: durch. Erreichen der Altersgrenze) freigewordene Stelle eines Vorsitzenden Richters aufgrund einer haushaltsgesetzlichen Wiederbesetzungssperre (hier: um ein Jahr) verzögert und werden deshalb die Aufgaben des Vorsitzenden ständig durch den vom Präsidium bestimmten Vertreter wahrgenommen, so ist der Sprüchkörper nicht vorschriftsmäßig besetzt (Ergänzug zu BGH Urt. vom 5. Juni 1985 – VIII ZR 135/84 – zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen).

 

Normenkette

ZPO § 551 Nr. 1; GVG §§ 21f, 115

 

Verfahrensgang

OLG Karlsruhe (Beschluss vom 21.03.1985)

LG Freiburg i. Br.

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluß des Oberlandesgerichts Karlsruhe – 13. Zivilsenat in Freiburg – vom 21. März 1985 aufgehoben.

Beschwerdewert: 5.297,50 DM.

 

Tatbestand

I.

Das Landgericht hat dem Kläger, der zuletzt 5.697,50 DM Schadensersatz aus Reisevertrag nebst Zinsen eingeklagt hatte, 2.705,50 DM nebst Zinsen zuerkannt, im übrigen die Klage abgewiesen. Der Kläger hat dagegen rechtzeitig Berufung eingelegt. Nachdem seine Berufungsbegründung, mit der er insgesamt nur noch 5.297,50 DM nebst Zinsen verlangt, fristgerecht am 12. September 1983 bei Gericht eingegangen war und die Beklagte sich am 7. November 1983 der Berufung angeschlossen hatte, wurde der Kläger mit Verfügung vom 4. Februar 1985 darauf hingewiesen, daß die Berufungsbegründungsschrift nicht ordnungsgemäß unterzeichnet, allenfalls mit einer Paraphe gezeichnet sei. Der Kläger hielt dem unter Vorlage von Zeichnungsmustern entgegen, es handle sich nicht um eine Paraphe, sondern um die seit Jahren verwendete und nicht beanstandete Unterschrift seines Prozeßbevollmächtigten.

Das Oberlandesgericht hat durch Beschluß vom 21. März 1985 die Berufung des Klägers wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen, weil das zu beurteilende Schriftgebilde nicht die nach § 130 Nr. 6 ZPO an eine Unterschrift zu stellenden Anforderungen erfülle.

Mit der sofortigen Beschwerde rügt der Kläger die Besetzung des Berufungsgerichts, das seit mehr als einem Jahr keinen gerichtsverfassungsmäßigen Vorsitzenden gehabt habe. Im übrigen wiederholt er sein Vorbringen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge ist begründet. Das Berufungsgericht war bei Beschlußfassung nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 551 Nr. 1 ZPO).

a) Wie der Präsident des Oberlandesgerichts auf Anfrage bestätigt hat, war die Planstelle des Vorsitzenden Richters des 13. Zivilsenats vom 1. Mai 1984 bis zum 30. April 1985 infolge der haushaltsgesetzlichen Wiederbesetzungssperre im Lande Baden-Württemberg nicht besetzt. Die Geschäfte des Vorsitzenden sind über den gesamten Zeitraum hinweg von dem geschäftsplanmäßigen Vertreter wahrgenommen worden, so auch am 21. März 1985. Der Geschäftsverteilungsplan für 1985 weist als Vorsitzenden des 13. Zivilsenats „NN” aus.

b) Die derart langfristige Nichtbesetzung der Planstelle eines Vorsitzenden Richters verstößt nicht nur gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; vgl. Vorprüfungsausschuß des BVerfG NJW 1983, 1541). Sie steht auch im Widerspruch zum Gerichtsverfassungsgesetz. Gemäß §§ 21 f Abs. 1, 115 GVG führen den Vorsitz in den Spruchkörpern bei den Oberlandesgerichten der Präsident und die Vorsitzenden Richter. Nur bei Verhinderung des Vorsitzenden führt den Vorsitz das vom Präsidium bestimmte Mitglied des Senats (§ 21 f Abs. 2 GVG). Die personalverwaltungsmäßig vermeidbare, durch ein Staatshaushaltsgesetz veranlaßte Nichtbesetzung einer freigewordenen und nicht wegfallenden Planstelle ist aber kein Fall der Verhinderung im Sinne des § 21 f Abs. 2 GVG (so auch BSG DRiZ 1975, 377; OLG Frankfurt MDR 1978, 162; OLG Hamburg NStZ 1984, 570 = JR 1985, 36 m. Anm. Katholnigg; vgl. auch BGH Urteil vom 5. Juni 1985 – VIII ZR 135/84 – zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).

§ 21 f GVG hat wie früher § 66 Abs. 1 GVG zum Ziel, daß den Vorsitz in dem Spruchkörper ein besonders qualifizierter Richter innehat, der den vielfältigen und verantwortungsreichen Aufgaben dieses Amtes gerecht zu werden vermag (vgl. BGHZ 37, 210, 212; 88, 1, 8). Das zwingt dazu, die Vorschrift des § 21 f Abs. 2 GVG eng auszulegen und eine Vertretung des ordentlichen Vorsitzenden nur in Fällen vorübergehender Verhinderung zuzulassen (vgl. BGH NJW 1974, 1572, 1573 m.N.). Der Wegfall eines Richters, sein Ausscheiden aus dem Gericht infolge Todes, Dienstunfähigkeit, Erreichens der Altersgrenze oder Versetzung in ein anderes Amt bewirkt keine vorübergehende, sondern seine endgültige Verhinderung. Diese erfordert umgehende Maßnahmen der Gerichtsverwaltung und des Präsidiums nach § 21 e Abs. 3 GVG und erlaubt eine entsprechende Anwendung des § 21 f Abs. 2 GVG nur insoweit, als eine vorübergehende Vertretung des ausgeschiedenen Vorsitzenden für den Fortgang der Gerichtstätigkeit unerläßlich erscheint (vgl. Ridder NJW 1972, 1689, 1690). Jede sachfremde, mit der Personalauswahl nicht unvermeidlich verbundene Verzögerung der Wiederbesetzung der Planstelle entzieht der Vertretungsregelung nach § 21 f Abs. 2 GVG die Rechtsgrundlage, so daß der Spruchkörper nicht ordnungsgemäß besetzt ist.

Bei der Prüfung der Besetzungsrüge ist allerdings auf die jeweiligen Umstände der Stellenbesetzung abzustellen (so schon RGSt 62, 273, 274; RG JW 1930, 2793 Nr. 26). Dabei muß je nach Lage des Falles eine Übergangszeit von mehreren Monaten in Kauf genommen werden (vgl. BGHSt 8, 17; 14, 11; BGHZ 16, 254; BVerfG NJW 1965, 1223). Wird jedoch eine Richterstelle durch Erreichen der Altersgrenze frei, können alle Besetzungsmaßnahmen (wie Ausschreibung der Stelle, Besetzungsvorschlag, Beteiligung des Präsidialrats und gegebenenfalls Wahl durch einen Richterwahlausschuß) so rechtzeitig vorgenommen werden, daß in aller Regel die freigewordene Stelle sogleich wieder besetzt werden kann.

c) Das ist hier nicht geschehen. Die Stelle des Vorsitzenden Richter des 13. Zivilsenats ist ein Jahr lang aus Gründen, die mit der Auswahl des neuen Vorsitzenden nichts zu tun haben und nach dem Gerichtsverfassungsgesetz als sachfremd anzusehen sind, nicht besetzt worden. Daran ändert nichts, daß in dem für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der Beschlußfassung über die Zulässigkeit der Berufung die Wiederbesetzung der Vorsitzendenstelle abzusehen war. Denn die haushaltsgesetzliche Besetzungssperre wirkte sich so aus, als ob bis zum 1. Mai 1985 für den 13. Zivilsenat überhaupt keine Vorsitzendenstelle vorhanden war (BGH Urteil vom 5. Juni 1985; vgl. a. Katholnigg JR 1985, 38). Für den „Inhaber” einer nicht vorhandenen Vorsitzendenstelle kann aber kein Vertreter bestellt werden (BGH aaO; OLG Hamburg aaO; Kissel § 59 Rdn. 3). Aus diesem Grunde waren auch die Geschäftsverteilungspläne des Oberlandesgerichts für 1984 und 1985 fehlerhaft (zur Bezeichnung eines Vorsitzenden mit „NN” vgl. BGHSt 28, 290). Der 13. Zivilsenat war nach alledem am 21. März 1985 nicht vorschriftsmäßig besetzt.

2. Deshalb braucht die Sache aber nicht zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen zu werden. Denn nach § 575 ZPO besteht im Beschwerdeverfahren kein Zwang zur Zurückverweisung, auch nicht bei wesentlichen Verfahrensmängeln (§ 540 ZPO). Das steht vielmehr im Ermessen des Beschwerdegerichts (vgl. Thomas/Putzo, 13. Aufl. § 575 ZPO Anm. 1). Ist die Sache entscheidungsreif, muß sogar von der Zurückverweisung abgesehen werden (Zöller/Schneider, 14. Aufl., § 575 ZPO Anm. 11, 12). So ist es hier. Das Berufungsgericht hat nämlich zu Unrecht angenommen, daß die Berufungsbegründungsschrift vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers Dr. H. nicht ordnungsgemäß unterzeichnet und deshalb die Berufung unzulässig sei.

a) Eine den Erfordernissen des § 130 Nr. 6 ZPO genügende Unterschrift setzt ein aus Buchstaben einer üblichen Schrift bestehendes Gebilde voraus, das nicht lesbar zu sein braucht. Es muß aber ein die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnender individueller Schriftzug sein, der einmalig ist, entsprechende charakteristische Merkmale aufweist und sich als Unterschrift eines Namens darstellt (BGH NJW 1974, 1090; 1975, 1704; 1975, 1705; 1982, 1467; 1985, 1227, jeweils m.w.N.; Beschlüsse vom 27. Oktober 1983 – VII ZB 9/83 = VersR 1984, 142 und vom 4. Juli 1984 – VIII ZB 8/84 = VersR 1984, 873). Da die Unterschrift lediglich sicherstellen soll, daß das Schriftstück vom Unterzeichner stammt, reicht es aus, daß ein individueller Namensteil vorliegt, der die Absicht einer vollen Unterschrift erkennen läßt, selbst wenn er nur flüchtig geschrieben ist (BGH Beschluß vom 24. Februar 1983 – I ZB 8/82 = VersR 1983, 555).

b) Die hier zu beurteilende Unterschrift ist (wie in den Sachen BGHSt 12, 317 = NJW 1959, 734 Nr. 18 und Senatsbeschluß VersR 1984, 142) ein Grenzfall. Sie erfüllt eben noch die nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zu stellenden Anforderungen. Die zweimalige Folge von Auf- und Abstrichen kann nicht nur – wie das Berufungsgericht mein – als „U., N. oder M.” gedeutet werden, sondern auch als flüchtig hingeworfenes „H.”, mit dem der aus vier Buchstaben bestehende Name des Prozeßbevollmächtigten des Klägers beginnt. Im letzten Abstrich kann außerdem zugleich verkürzt der Abstrich des letzten Buchstabens des Namens „d” gesehen werden. Die einzelnen Buchstaben müssen nicht unbedingt klar zu erkennen sein, wenn nur die Entstehung des Schriftzuges aus der ursprünglichen Schrift in Buchstaben noch wahrzunehmen ist (BGH VersR 1983, 555). Das ist hier der Fall.

Dabei ist zu berücksichtigen, daß es sich um einen kurzen Namen handelt, der auch ausgeschrieben nicht viel Raum einnimmt, sich andererseits der Schriftzug aber fast über das ganze Wort „Rechtsanwalt” erstreckt. Der Schriftzug ist auch immerhin so individuell ausgeführt, daß er die Identifizierung mit dem Unterzeichner ermöglicht. Ihm kann deshalb der Charakter einer Unterschrift nicht abgesprochen werden. Um eine Paraphe handelt es sich nicht, der Schriftzug soll vielmehr ersichtlich den ganzen Namen des Unterzeichners darstellen. Rechtsanwalt Dr. H. hat denn auch dasselbe Schriftbild allein in diesem Rechtsstreit mit gleichbleibender Ähnlichkeit bei sämtlichen Unterschriften verwendet, ohne daß – bis zur Verfügung des Berufungsgerichts vom 4. Februar 1985 – der Schriftzug als bloßes Handzeichen beanstandet worden wäre (vgl. dazu BGH VersR 1983, 555; 1984, 142).

Für das Berufungsgericht durfte danach nicht zweifelhaft sein, daß die Berufungsbegründungsschrift von Rechtsanwalt Dr. H. unterschrieben worden ist.

Die angefochtene Entscheidung ist infolgedessen aufzuheben. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind Teil der Kosten der Hauptsache.

 

Unterschriften

Girisch, Recken, Doerry, Obenhaus, Walchshöfer

 

Fundstellen

Haufe-Index 839034

BGHZ, (zu II 1)

BGHZ, 246

NJW 1985, 2337

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