Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung der Amtsermittlungspflicht bei unterlassener Zeugeneinvernahme

 

Leitsatz (NV)

1. Von der beantragten Einvernahme eines Zeugen darf das FG nur absehen, wenn es auf die Zeugenaussage für die Entscheidung nicht ankommt oder wenn das Gericht den in das Wissen des Zeugen gestellten Sachverhalt als wahr unterstellt.

2. Ein Verzicht auf die Einvernahme des Zeugen liegt nicht vor, wenn ein Beteiligter noch nach der Ladung ausdrücklich seine bisherigen Beweisantritte aufrechterhält.

3. Wann muß einem Beteiligten bekannt sein (§ 295 Abs. 1 ZPO), daß das FG dem gestellten Beweisantrag nicht entsprechen wird?

 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 1 S. 1, § 155; ZPO § 295 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein selbständiger Zahnarzt, ermittelte seinen Gewinn nach § 4 Abs. 3 des Ein kommensteuergesetzes (EStG). Mit Kaufvertrag vom ... 1980 erwarb er ein Grundstück in D. Er erklärte im Kaufvertrag, daß er auf dem Grundstück innerhalb der nächsten fünf Jahre ein Wohnhaus nach den Vorschriften des sozialen Wohnungsbaus errichten werde und beantragte die Befreiung von der Grunderwerbsteuer, die ihm zunächst gewährt wurde. Am ... 1981 ver äußerte er das Grundstück und machte den dabei entstandenen Verlust als Betriebsausgaben bei seinen Einkünften aus selbständiger Arbeit geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) sah in dem Grundstück kein notwendiges Betriebsvermögen der zahnärztlichen Praxis und erkannte den Veräußerungsverlust nicht als Betriebsausgaben an.

Im Klageverfahren ließen der Kläger und seine mit ihm zusammen veranlagte Ehefrau (Klägerin) vortragen, daß das Grundstück nur erworben worden sei, um es gegen ein Grundstück der Kirchengemeinde D zu tauschen, auf dem der Kläger eine Zahnarztpraxis errichten wollte. Als Zeugen hierfür wurden der örtliche Pfarrer und Herr Architekt S, benannt. Der Aufforderung des Finanzgerichts (FG), den Schriftverkehr mit der Kirchengemeinde vorzulegen, kamen die Kläger dergestalt nach, daß sie schriftliche Erklärungen des örtlichen Pfarrers und des Architekten S einreichten, der seinerzeit die Tauschverhandlungen geführt hatte. S bestätigte in der dem Gericht eingereichten Aktennotiz, daß "Ende 1980 ... der Kauf eines Grundstücks in D zum Zweck des Tausches mit einem Teilgrundstück der Vikarie ... " getätigt worden sei.

Am 6. Februar 1992 erging Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 11. März 1992. Mit Schriftsatz vom 6. März 1992 ließ der Kläger erneut darauf hinweisen, daß der Beweisantritt durch S "ausdrücklich aufrechterhalten" bleibe. Ausweislich der Niederschrift über die Sitzung ließ der Kläger den Antrag stellen, den Verlust aus der Veräußerung des Grundstücks als Betriebsausgaben anzuerkennen. Das FG schloß die Verhandlung mit der Verkündung des Beschlusses, daß eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde. Es erließ ein -- im Streitpunkt -- klageabweisendes Urteil im wesentlichen mit der Begründung, daß es an einer erkennbaren Einlage des Grundstücks in das Betriebsvermögen fehle und ausweislich der Kaufurkunde der Bau eines Wohnhauses geplant gewesen sei. Damit habe der Kläger eine ggf. früher vorhandene Eintauschabsicht aufgegeben. Einer Einvernahme der Zeugen hätte es daher nicht bedurft.

Die Kläger rügen mit ihrer Revision Verletzung des § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision, mit der ausschließlich die Verletzung des § 76 Abs. 1 FGO gerügt wird, ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die Verfahrensrüge ist in zulässiger Form erhoben.

Wird ein Verfahrensmangel gerügt, so sind in der Revisionsbegründung die Tatsachen zu bezeichnen, die den Mangel ergeben (§ 120 Abs. 2 Satz 2 FGO). Hierzu gehört für den Fall einer Verletzung des § 76 Abs. 1 FGO durch Übergehen eines Beweisangebots die Darlegung der ermittlungsbedürftigen Punkte, die Darlegung, welche angebotenen Beweise das FG nicht erhoben hat, die Angabe der Namen der Zeugen und ferner des oder der Schriftsätze, in denen der Beweisantritt erfolgt ist und schließlich die Darlegung, was Ergebnis der Beweisaufnahme gewesen wäre und daß diese sich auf die Entscheidung ausgewirkt hätte. Erforderlich ist ferner die Darlegung, daß die nach Meinung der Kläger mangelhafte Sachaufklärung vor dem FG gerügt worden oder ihm eine derartige Rüge nicht möglich gewesen sei (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs -- BFH --; vgl. z. B. BFH-Beschlüsse vom 22. Juli 1992 II B 40/92, BFH/NV 1993, 422; vom 23. September 1987 V B 71/87, BFH/NV 1988, 250; BFH-Urteile vom 14. März 1989 VIII R 430/83, BFH/NV 1989, 712; vom 18. April 1972 VIII R 40/66, BFHE 105, 325, BStBl II 1972, 572; BFH-Beschlüsse vom 5. Dezember 1985 IV S 2, 7-8/85, BFH/NV 1987, 438; vom 31. Januar 1989 VII B 162/88, BFHE 155, 498, BStBl II 1989, 372). Diesen Anforderungen entspricht die Revisionsbegründung. Die Kläger haben dargetan, daß sie zur Widerlegung der Erklärung im Kaufvertrag über die künftige Nutzung des Grundstücks im Schriftsatz vom 25. Oktober 1990 u. a. S als Zeugen benannt haben, daß dieser die Tauschabsicht hätte bezeugen können und damit die betriebliche Veranlassung des streitigen Grundstückskaufs hätte nachgewiesen werden können. Die Kläger lassen auch vortragen, daß sie wiederholt die Vernehmung des Zeugen S beantragt haben. Dem läßt sich mit hinreichender Schlüssigkeit die Darlegung entnehmen, daß sie die fehlende Reaktion des FG auf ihre wiederholten Beweisangebote vor dem FG gerügt haben.

2. Die Rüge ist auch begründet.

a) Das FG hätte im Rahmen seiner Amts ermittlungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO den von den Klägern als Zeugen benannten Architekten S vernehmen müssen. Dies würde nur dann nicht gelten, wenn es auf die Zeugenaussage für die Entscheidung nicht ankommt oder wenn das Gericht den in das Wissen des Zeugen gestellten Sachverhalt als wahr unterstellt (vgl. BFH-Urteile vom 22. April 1988 III R 59/83, BFH/NV 1989, 38; vom 13. August 1969 II 213/65, BFHE 98, 210, BStBl II 1970, 338). Beides ist nicht der Fall.

Entscheidungserheblich ist, ob der Kläger das Grundstück in D aus betrieblichem Anlaß erwarb. Dies wäre nach dem insoweit maßgeblichen materiell-rechtlichen Rechtsstandpunkt des FG (vgl. z. B. BFH- Urteil vom 29. Januar 1986 I R 197/81, BFH/NV 1987, 250; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 120 Rdnr. 39 m. w. N.) zu bejahen gewesen, wenn sich die Behauptung des Klägers als richtig erweisen sollte, daß die katholische Kirche das vom Kläger zur Errichtung einer Zahnarztpraxis vorgesehene Grundstück nicht verkaufen, sondern nur gegen ein anderes Grundstück eintauschen wollte und der Kläger nur zu diesem Zweck das streitige Grundstück erwarb.

Das FG hat auch das behauptete Wissen des Architekten S nicht als richtig unterstellt. Es hat vielmehr die Einvernahme des Zeugen im Urteil mit der Begründung abgelehnt, daß der Kläger mit seiner Erklärung im Kaufvertrag eine evtl. zuvor vorhandene Eintauschabsicht aufgegeben habe. Die Kläger haben aber zu keinem Zeitpunkt behauptet, daß S nur über eine vor dem Kauf bestehende Tauschabsicht aussagen könne. Vielmehr haben sie mittels der von S gefertigten und bei Gericht eingereichten Aktennotiz ausführen lassen, daß der Kauf des Grundstücks Ende 1980 "zum Zweck des Tausches" getätigt worden sei.

Der Senat verkennt auch nicht, daß der Erklärung des Klägers zur Verwendung des Grundstücks im Kaufvertrag bei der Beweiswürdigung letztlich ein besonderes Gewicht beizumessen sein wird. Da diese Erklärung aber, wie die Kläger zu Recht vortragen lassen, widerlegbar ist, durfte das FG trotz der Bedeutung der Erklärung von der beantragten Zeugeneinvernahme nicht absehen.

b) Die Kläger haben ihr Recht, mangelnde Sachaufklärung zu rügen, auch nicht verloren.

Gemäß § 155 FGO i. V. m. § 295 Abs. 1, § 531 der Zivilprozeßordnung (ZPO) kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozeßhandlung betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei auf die Verfolgung der Vorschrift verzichtet, oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die aufgrund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein mußte. Es muß sich, wie dem Umkehrschluß aus § 295 Abs. 2 ZPO zu entnehmen ist, um eine Vorschrift handeln, auf deren Befolgung verzichtet werden kann. Dies ist bei Verletzung des § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO durch Übergehen eines Beweisangebotes der Fall (vgl. BFH-Beschluß vom 4. Oktober 1991 VII B 98/91, BFH/NV 1992, 603 m. w. N.; BFH in BFHE 155, 498, BStBl II 1989, 372; BFH-Beschluß vom 5. Juni 1991 II B 180/90, BFH/NV 1992, 397).

Der Kläger hat weder ausdrücklich noch stillschweigend (vgl. z. B. Zöller, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 295 Rdnr. 1) auf die Einvernahme des Zeugen S verzichtet. Noch mit Schriftsatz vom 6. März 1992, der nur wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung bei Gericht eingegangen und in der mündlichen Verhandlung dem FA übergeben worden ist, haben die Kläger vortragen lassen, daß der bisherige Beweis antritt "ausdrücklich aufrechterhalten" bleibe. Für einen Sinneswandel enthält die Niederschrift über die mündliche Verhandlung keine Anhaltspunkte.

Den Klägern bzw. ihrem Prozeßbevollmächtigten war im Streitfall auch nicht bekannt und es mußte ihnen auch nicht bekannt sein, daß das FG dem gestellten Beweisantrag nicht entsprechen werde. Ausweislich der Akten hat das FG bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung eine Einvernahme der von den Klägern angebotenen Zeugen nicht abgelehnt, so daß keiner der Beteiligten positiv wußte, daß das Gericht eine (notwendige) Zeugeneinvernahme nicht vornehmen werde. Die Kläger trifft aber auch nicht der Vorwurf fahrlässiger (vgl. z. B. Thomas/Putzo, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 295 Rdnr. 5) Unkenntnis des künftigen Vorgehens des Gerichts. Das FG ist grundsätzlich verpflichtet, angebotene Beweise zu erheben. Es kann von der Beweiserhebung nur absehen, wenn diese nicht entscheidungserheblich ist oder das Gericht die Behauptungen einer Partei als wahr unterstellt (vgl. BFH in BFH/NV 1989, 38; in BFHE 98, 210, BStBl II 1970, 338). Liegen keine besonderen Umstände vor, die ein prozeßrechtswidriges Verhalten des FG nahelegen, so dürfen die Beteiligten grundsätzlich darauf vertrauen, daß das Gericht gesetzesgemäß verfährt. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob eine Ladung zur mündlichen Verhandlung ohne Beweisbeschluß und Bestimmung eines Termins zur Zeugeneinvernahme stets den Verdacht erwecken muß, das Gericht werde die angebotenen Beweise nicht erheben. Unter Berücksichtigung des finanzgerichtlichen Grundsatzes, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen (§ 79 Abs. 1 Satz 1 FGO), ist dies grundsätzlich zu vermuten (vgl. z. B. BFH in BFHE 105, 325, BStBl II 1972, 572; in BFH/NV 1992, 603). Diesen Eindruck hat im Streitfall offensichtlich auch der Klägervertreter gehabt, da er nach Zugang der Ladung zur mündlichen Verhandlung noch einen Schriftsatz eingereicht hat, in dem er u. a. nochmals ausdrücklich auf einer Einvernahme des Architekten S zum entscheidungserheblichen Streitpunkt bestanden hat. Die Kläger bzw. ihr Prozeßbevollmächtigter durften davon ausgehen, daß das Gericht diesen erneuten Antrag nicht übergehen und dementsprechend im Rahmen der Beratung pflichtgemäß erwägen werde. Dies gilt im Streitfall um so mehr, als das FA die Notwendigkeit der Zeugeneinvernahme zu keinem Zeitpunkt bestritten hat und ausweislich der Akten auch vom Gericht nicht in erkennbarer Weise in Zweifel gezogen worden ist. Gegenteiliges läßt sich unter diesen Umständen auch nicht aus dem am Ende der mündlichen Verhandlung gefaßten Beschluß des Gerichtes schließen, wonach den Beteiligten "eine Entscheidung" zugestellt werde. Eine "Ent- scheidung" kann sowohl ein Urteil als auch ein Beschluß sein. Die Formulierung "eine Entscheidung wird zugestellt" ist gerade dann zu wählen, wenn das FG noch nicht über Beweisanträge beraten hat und daher am Schluß der mündlichen Verhandlung noch offen ist, ob nach dem Beratungser- gebnis ein Beweisbeschluß oder ein Urteil ergehen wird. Auch war der angebotene Zeuge S im Termin zur mündlichen Ver- handlung nicht erschienen, so daß es nicht nahe lag, anzunehmen, das Gericht werde noch in der mündlichen Verhandlung einen Beweisbeschluß erlassen. Ferner hat sich das Gericht ausweislich der Sitzungsnieder- schrift zu keinem Zeitpunkt zur Beratung über den erneuten Beweisantrag zurückge- zogen. Der Streitfall unterscheidet sich in diesen Details wesentlich von der Entscheidung des VII. Senats in BFHE 155, 498, BStBl II 1989, 372. Hinzu kommt, daß die Kläger -- auf eine Aufforderung des Gerichts, den Schriftverkehr mit der Kirchengemeinde vorzulegen -- schriftliche Bestätigungen der von ihnen angebotenen Zeugen, und zwar des Architekten S und des mit den damaligen Tauschverhandlungen befaßten katholischen Pfarrers, eingereicht haben. Derartige schriftliche Erklärungen darf das Gericht als Urkundenbeweis im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung verwerten (vgl. BFH-Urteile vom 7. Mai 1969 I R 68/67, BFHE 95, 395, BStBl II 1969, 444; vom 16. Januar 1975 IV R 180/71, BFHE 115, 202, BStBl II 1975, 526 unter Nr. 3 a; Gräber/Koch, a.a.O., § 82 Rdnr. 40; Zöller, a.a.O., § 416 Rdnr. 4), zumal auch das FA keine Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der schriftlichen Bestätigungen der Zeugen angemeldet hat. Unter diesen Umständen darf den Klägern bzw. ihrem Prozeßbevollmächtigten nicht die Annahme verwehrt sein, das Gericht werde die von den Zeugen schriftlich bestätigte betriebliche Veranlassung des Grundstückskaufs als richtig unterstellen und aus diesem Grund von einer Zeugeneinvernahme absehen. Daß das FG trotz der gegenteiligen schriftlichen Erklärungen der Zeugen von einer Aufgabe der Tauschabsicht im Zeitpunkt des Kaufs ausgehen werde, ist für die Kläger und deren Prozeßbevollmächtigten nicht vorhersehbar gewesen.

3. Die Sache ist daher zur Nachholung der unterlassenen Zeugeneinvernahme an das FG zurückzuverweisen. Dem FG wird sich auch die Frage stellen, ob es, wenn es der schriftlichen Bestätigung des mit den Tauschverhandlungen befaßten Pfarrers keinen Glauben zu schenken vermag, nicht auch diesen als Zeugen zu vernehmen hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420054

BFH/NV 1995, 320

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