Leitsatz (amtlich)

1. Zur Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG 1952.2. Die Frage, ob die im Bundesgebiet gelegene Betriebsstätte eines Westberliner Unternehmers im eigenen Namen handelt, d. h. mit einiger Selbständigkeit auftritt, ist anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Ein Tätigwerden des Unternehmers beim Abschluß der Umsatzgeschäfte schließt nicht in jedem Fall den Kürzungsanspruch aus.

2. Das FA kann steuerlich zuverlässigen Unternehmern gestatten, den buchmäßigen Nachweis der Kürzungsvoraussetzungen aus in Berlin (West) geführten Büchern zu erbringen.

 

Normenkette

BHG 1952 § 4 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5

 

Tatbestand

Die Revisionsklägerin ist Alleinerbin des nach Revisionseinlegung verstorbenen Steuerpflichtigen. Streitig ist, ob der Steuerpflichtige berechtigt war, für 1957/58 Umsatzsteuerkürzungen nach § 3 Abs. 1 BHG 1952 in Anspruch zu nehmen.

Der Steuerpflichtige handelte mit Fetten. Der Sitz seines Unternehmens befand sich in Berlin (West). Er unterhielt seit 1952 eine Filiale in Hamburg. Diese war als Zweigniederlassung im Handelsregister eingetragen. Für sie war ein Prokurist bestellt. In Hamburg waren außerdem eine Bürokraft und vier Arbeiter tätig. Gehälter und Löhne wurden in Hamburg gezahlt. Die Filiale unterhielt ein eigenes Bankkonto und ein eigenes Postscheckkonto. Sie war zuständig für die hier streitigen Fetteinkäufe von Westberliner Lieferanten und konnte darüber hinaus im gesamten Bundesgebiet ein- und verkaufen.

Die Geschäftsbücher der Filiale (mit Ausnahme von Partien- und Einkaufsbüchern) wurden in den Streitjahren in der Zentrale in Berlin (West) geführt. Das FA - Revisionsbeklagter - hatte dem Steuerpflichtigen am 25. November 1954 auf Anfrage mitgeteilt, es bestünden keine Bedenken, daß die Umsatzsteuerkürzung nach § 3 BHG in Anspruch genommen werde, "auch wenn die Bücher nicht im Bundesgebiet, sondern in West-Berlin geführt werden".

Die Fetteinkäufe wickelten sich nach Darstellung des Steuerpflichtigen wie folgt ab: Die Westberliner Lieferanten boten dem Steuerpflichtigen meist telefonisch die Ware an. Dieser wies die Lieferanten darauf hin, daß er zunächst die Entscheidung seiner Hamburger Zweigniederlassung einholen müsse. Er übermittelte dann das Angebot der Filiale. Diese prüfte die Preiswürdigkeit und Verwertungsmöglichkeit und teilte dem Steuerpflichtigen das Ergebnis ihrer Überlegungen mit, der dann die Entscheidung der Filiale an die Lieferanten weitergab. Diese stellten die Rechnungen auf die Filiale aus. Sie übergaben die Ware dem Steuerpflichtigen in Berlin (West), der sie größtenteils in die Hamburger Filiale verbrachte.

Das FA versagte dem Steuerpflichtigen die begehrten Umsatzsteuerkürzungen. Einspruch und Berufung (Klage) blieben erfolglos. Das FG hat u. a. ausgeführt: Der buchmäßige Nachweis sei nicht, wie in § 4 Abs. 5 BHG vorgeschrieben, aus im Bundesgebiet geführten Büchern erbracht worden. Die Gestattung der Nachweiserbringung in Berlin (West) sei zwar eine Zusage des FA; sie verstoße jedoch gegen zwingendes Recht, so daß sich der Steuerpflichtige nicht auf Treu und Glauben berufen könne. Außerdem fehle es auch an der Voraussetzung des § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG. Die im Bundesgebiet gelegene Betriebstätte müsse mit einiger Selbständigkeit auftreten. Hier habe aber der Steuerpflichtige selbst mit den Westberliner Lieferanten verhandelt und das schuldrechtliche Verpflichtungsgeschäft abgeschlossen. Daran ändere nichts, daß er auf die Hamburger Filiale hingewiesen habe. Es sei nicht möglich, daß ein Unternehmer Hilfsperson seiner Filiale sei.

Mit der Revision rügt der Steuerpflichtige mangelhafte Sachaufklärung, fehlerhafte Würdigung von Zeugenaussagen und Verletzung der Grundsätze von Treu und Glauben, des Art. 3 Abs. 1 GG, des § 96 FGO und der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 Nr. 2, 4 Abs. 5 BHG und macht geltend: Die Zusage des FA sei verbindlich, weil sie keinesfalls eindeutig gesetzeswidrig gewesen sei. Sie enthalte überdies eine spezielle Gestattung im Sinne des § 4 Abs. 5 Satz 2 BHG. Ihre Nichtbeachtung würde ihn unter Verletzung des Gleichheitssatzes gegenüber anderen Unternehmern benachteiligen, denen auf Grund von Anweisungen des LFA bis 1964 die Buchführung in Berlin (West) gestattet worden sei. Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG seien erfüllt. Das FG habe die Aussagen der Zeugen und seine Äußerungen nicht dahin verstehen dürfen, er habe die letzte Entscheidung selbst treffen wollen. Das FG habe das Beweisangebot, den Hamburger Prokuristen als Zeugen zu hören, ohne Angabe von Gründen übergangen. Die Annahme des FG, schon seine Mitwirkung stehe der Vergünstigung entgegen, sei unzutreffend. § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG durchbreche den Grundsatz der Einheit des Unternehmens; die Betriebstätte könne sich der Hilfe des Unternehmers bedienen. Im übrigen habe das FA seine Handhabung stets gebilligt. Es widerspreche Treu und Glauben, eine verschärfende Rechtsprechung zum Anlaß zu nehmen, den Sachverhalt rechtlich anders zu würdigen. Die entgegenstehende Rechtsprechung sollte überprüft werden. Der Steuerpflichtige beantragt,

das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß die Umsatzsteuer 1957 unter Anerkennung eines Kürzungsbetrags von ... DM und für 1958 unter Anerkennung eines Kürzungsbetrags von ... DM festgesetzt wird.

Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Es trägt vor: § 3 BHG sei schon deswegen nicht anwendbar, weil der Steuerpflichtige buchmäßig nicht nachgewiesen habe, daß die Zweigniederlassung im eigenen Namen bestellt habe. Die Lieferantenrechnungen beträfen nicht das Verpflichtungsgeschäft. In der Mitwirkung des Steuerpflichtigen habe letztlich die Auftragserteilung gelegen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Neufestsetzung der Umsatzsteuer.

Nach § 3 Abs. 1 BHG kann ein Unternehmer im Bundesgebiet, der von einem Westberliner Unternehmer Gegenstände erwirbt, die Umsatzsteuer um 4 v. H. des Entgelts kürzen, wenn die Gegenstände in Berlin (West) hergestellt worden und von dort aus in das Bundesgebiet gelangt sind. Unternehmer im Bundesgebiet ist auch eine im Bundesgebiet belegene Betriebstätte eines Westberliner Unternehmers, soweit sie im eigenen Namen von einem anderen Westberliner Unternehmer Gegenstände erwirbt (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG). Die Voraussetzungen des Kürzungsanspruchs sind gemäß § 4 Abs. 5 BHG durch im Bundesgebiet geführte Bücher nachzuweisen; das FA ist berechtigt einem steuerlich zuverlässigen Unternehmer zu gestatten, den buchmäßigen Nachweis in anderer Weise zu erbringen.

Der Kürzungsanspruch entfällt entgegen der Auffassung des FG nicht bereits deswegen, weil der Steuerpflichtige den buchmäßigen Nachweis der Kürzungsvoraussetzungen nur aus in Berlin (West) geführten Büchern zu erbringen vermag. § 4 Abs. 5 Satz 1 BHG ordnet zwar an, daß der buchmäßige Nachweis "aus den im Bundesgebiet geführten Büchern hervorgehen" muß. Nach § 4 Abs. 5 Satz 2 BHG kann das FA jedoch eine Nachweiserbringung in anderer Weise gestatten. Dazu gehört auch die Bewilligung, die erforderlichen Aufzeichnungen außerhalb des Bundesgebietes in Berlin (West) zu führen. Die Nachprüfungsbefugnisse der Finanzbehörden sind in Berlin (West) und im Bundesgebiet die gleichen. Das Schreiben des FA vom 25. November 1954 enthält eine solche Bewilligung. Es ist nicht erkennbar, daß das FA dabei die ihm gesetzten Ermessensschranken verletzt hätte. Im übrigen könnte nicht der Auffassung des FG gefolgt werden, das Schreiben vom 25. November 1954 enthalte keine nach Treu und Glauben bindende Zusage des FA. Eine gegen zwingendes Recht verstoßende Zusage ist nur dann unverbindlich, wenn der Steuerpflichtige die Gesetzeswidrigkeit erkannte oder erkennen konnte (Urteil des BFH II 176/63 vom 9. Mai 1967, BFH 89, 20, BStBl III 1967, 522). Das LFA Berlin hat bis Ende 1963 in mehreren Rundverfügungen den Standpunkt vertreten, daß der Buchnachweis mit Zustimmung des FA auch in Berlin (West) geführt werden kann (vgl. Rundverfügung Nr. 231/63 vom 20. Dezember 1963, StZBl 1964, 13). Wenn aber die steuerliche Mittelbehörde § 4 Abs. 5 Satz 1 BHG in dieser Weise auslegte, ist nicht anzunehmen, daß der Steuerpflichtige die Gesetzeswidrigkeit erkennen konnte.

Abzulehnen ist auch die Auffassung des FG, die Hamburger Filiale sei nicht "im eigenen Namen" aufgetreten. Die Auslegung des § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG, in dem diese Voraussetzung enthalten ist, hat den Steuergerichten seit jeher Schwierigkeiten bereitet. Die Vorschrift durchbricht die Unternehmenseinheit in einem so bedenklichen Maße, daß sie für verfassungswidrig gehalten werden könnte. Sie dürfte etwas rechtlich Unmögliches anordnen. Wenn es auch dem Gesetzgeber freisteht, einen Unternehmensteil, wie in § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG geschehen, nur umsatzsteuerlich als selbständig und ihn zivilrechtlich weiterhin als unselbständig zu behandeln, hätte doch vermieden werden sollen, die umsatzsteuerliche Selbständigkeit des Unternehmensteils an seinem zivilrechtlichen Verhalten (Auftreten im eigenen Namen) zu messen. Der Senat ist den verfassungsrechtlichen Bedenken bisher nicht nachgegangen, sondern hat versucht, den in § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG liegenden Widerspruch durch eine dem Sinn und Zweck der Begünstigung entsprechende Auslegung aufzulösen. Er hat in ständiger Rechtsprechung dahin erkannt, daß eine im Bundesgebiet gelegene Betriebstätte eines Westberliner Unternehmers dann als Unternehmer im Bundesgebiet anzusehen ist, wenn die Betriebstätte mit einiger Selbständigkeit ausgestattet ist; sie müsse das Umsatzgeschäft selbst abschließen und dürfe sich nicht des Stammhauses als Agenten bedienen (BFH-Urteile V 308/56 U vom 6. Februar 1958, BFH 66, 370, BStBl III 1958, 141; V 84/60 vom 31. Januar 1963, HFR 1963, 192, StRK, Berlinhilfegesetz, § 3, Rechtsspruch 7; V 22/64 vom 16. Dezember 1966, UStR 1968, 102, StRK, Berlinhilfegesetz, § 4, Rechtsspruch 4; V R 5/66 vom 17. April 1969, BFH 96, 89, BStBl II 1969, 593). Diese Rechtsprechung ist offenbar als praktikabel empfunden worden. Noch § 5 Abs. 2 Nr. 2 BHG 1968 macht die Unselbständigkeit der Filialen Westberliner Unternehmer im Bundesgebiet von dem Auftreten "im eigenen Namen" abhängig. Die Problematik des § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG 1952 und seiner Folgevorschriften ist derart vielschichtig, daß sie auf die Dauer nicht mit einer in sich widersprüchlichen Rechtsnorm behandelt werden kann. Der vorliegende Fall gibt jedoch keinen Anlaß, endgültig zur Frage der Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG Stellung zu nehmen. Er läßt sich unter Fortentwicklung der bisher herausgestellten Grundsätze entscheiden.

Dem FG ist einzuräumen, daß der Senat die Mitwirkung der Westberliner Zentrale an den Umsatzgeschäften als ein Merkmal angesehen hat, das gegen die in § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG vorausgesetzte Selbständigkeit der Filiale spricht (vgl. die o. a. Rechtsprechung). Es kann unerörtert bleiben, ob eine solche Mitwirkung unschädlich ist, wenn die Zentrale nicht als Abschlußvertreter (mit eigenem Entscheidungsspielraum) auftritt, sondern - wie es hier nach den Bekundungen der Zeugen anzunehmen ist, sofern der Steuerpflichtige überhaupt tätig wurde - lediglich als Bote bei der Übermittlung von Willenserklärungen (ohne eigenen Entscheidungsspielraum) auftrat. Die Unabhängigkeit einer Filiale gegenüber der Zentrale kann nur anhand einer Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls festgestellt werden. Auch bei den im UStG geregelten Fällen fehlender Selbständigkeit wird entweder ausdrücklich (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG, Organschaft) oder in gefestigter Rechtsprechung (so zur Unselbständigkeit natürlicher Personen nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG) auf das Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse abgestellt.

Im vorliegenden Fall spricht für die Selbständigkeit der Filiale, daß sie im Handelsregister eingetragen war und durch ihren Prokuristen einen von der Zentrale unabhängigen Willen entwickeln konnte. Sie hatte einen eigenen Personalbestand, eigene Räumlichkeiten und eigene Konten. Ihr war innerhalb des Gesamtunternehmens ein bestimmter Tätigkeitsbereich zugewiesen. Dabei kam gerade den Fetteinkäufen von Westberliner Lieferanten eine besondere Bedeutung zu. Die Filiale war maßgebend für die Preisbestimmung und die Verwertung der eingekauften Fette. Die Mitwirkung des Steuerpflichtigen war demgegenüber untergeordnet. Selbst wenn er nicht nur Bote gewesen sein sollte, überließ er doch der Filiale die Überlegungen, die maßgeblich für die Annahme der Lieferangebote waren. Die bisherige Rechtsprechung ist insbesondere von der Erwägung getragen, solche Unternehmer in Berlin (West) von der Vergünstigung auszuschließen, die nur formell die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG erfüllen, indem sie Zweigniederlassungen im Bundesgebiet gründen und diese ohne Veränderung des tatsächlichen Geschäftsgebahrens als Abnehmer auftreten lassen (Briefkastenfilialen u. ä.). Derartiges ist bei der Filiale des Steuerpflichtigen nicht zu besorgen. Sie war keine auf § 4 Abs. 1 Nr. 2 BHG abgestellte Neugründung, sondern besteht bereits seit 1952, während der Steuerpflichtige erst ab 1954 die Kürzung nach § 3 BHG in Anspruch genommen hat. Es kann nach dem Akteninhalt auch nicht angenommen werden, die Filiale sei im Rahmen des Gesamtunternehmens wirtschaftlich überflüssig gewesen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 69319

BStBl II 1971, 122

BFHE 1971, 330

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