Leitsatz (amtlich)

1. Zur ordnungsmäßigen Führung einer Fristenkartei muß jede Karte unter dem Datum des auf ihr vermerkten Fristendes eingeordnet werden. Die Organisation der Fristenüberwachung ist mangelhaft, wenn die Karteikarten zunächst unter dem Datum einer Vorfrist und nach deren Ablauf unter dem Datum der Rechtsmittelfrist eingelegt werden.

2. Ein Steuerbevollmächtiger muß zur Erfüllung seiner Organisationspflichten in seiner Kanzlei allgemein sicherstellen, daß Fristsachen, die dem Sachbearbeiter vorgelegt werden, als solche augenfällig gekennzeichnet sind.

2. Hat die Kanzlei eine Rechtsmittelsache zur sachlichen Bearbeitung rechtzeitig vorgelegt, so kann die auf einem Versehen des Sachbearbeiters beruhende Versäumung der Rechtsmittelfrist nicht durch den Nachweis entschuldigt werden, daß die nach anerkannten Grundsätzen organisierte sowie personell sorgfältig ausgewählte und überwachte Kanzlei im Einzelfall der ihr auferlegten Pflicht zur Erinnerung des Sachbearbeiters an die Erledigung nicht nachgekommen sei.

 

Normenkette

FGO § 56

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Inhaberin eines Verlages. Ihre Einsprüche gegen die berichtigten Umsatztsteuerbescheide 1965 bis 1967 sowie gegen den Umsatzsteuerbescheid 1968 wies der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) durch Einspruchsentscheidung zurück. Die Einspruchsentscheidung wurde den Bevollmächtigten der Klägerin laut Postzustellungsurkunde am 22. Februar 1973 zugestellt. Am 5. April 1973 ging die am 4. April 1973 von dem in der Sozietät angestellten Steuerbevollmächtigten bearbeitete und unterzeichnete Klage beim FG ein. Darin begehrte die Klägerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da die Klagefrist durch ein Versehen im Büro der Sozietät versäumt und der Fehler erst am 29. März 1973 entdeckt worden sei.

Das FG hat die Klage abgewiesen und dazu nach Vernehmung des Bürovorstehers der Sozietät zu der Handhabung der Vormerkung und Überwachung der Rechtsbehelfsfristen sowie nach Einsicht der in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Fristenkartei und der den Rechtsstreit betreffenden Handakten folgendes festgestellt:

"Die vom Seniorpartner der Sozietät geöffneten Posteingänge laufen zunächst bei den Sozietätsmitgliedern und X (= Sachbearbeiter) durch und gelangen anschließend sofort an den Zeugen. Auf der ersten Seite von Schriftstücken, bei denen der Ablauf einer Ausschlußfrist zu beachten ist, wird der letzte Tag der Frist von dem jeweiligen Bearbeiter-Sozietätsmitglied oder X deutlich oben rechts eingetragen. Dies geschieht regelmäßig mit Rotstift, gelegentlich - wie im Falle der Einspruchsentscheidung mit schwarzem Stift - auch in anderer Farbe. Da sonstige Fristen auf eingegangenen Schriftstückken nicht eingetragen werden, ist es für den Zeugen erkennbar, daß es sich bei der vermerkten Frist um eine Ausschlußfrist handelt.

Die vom Zeugen geführte Kartei besteht aus einem hölzernen Karteikasten und festen Trennkarten, die auf ihrer nach oben herausragenden Zunge mit den Tagesdaten 1 bis 31 versehen sind. Die einzuordnenden Karteiblätter in Form eines weißen Bogens DIN A 5 und mit Angabe des Steuerpflichtigen, der Art des eingegangenen Bescheides (bzw. der Verfügungen, Rückfrage, Erinnerung), mit Datum und Angabe des FA, ggf. auch des Veranlagungszeitraums dienen mit den Vermerken ,Ablauf der Rechtsbehelfsfrist:' und ,Termin Wv:' der Überwachung sowohl von Ausschlußfristen als auch von innerbetrieblichen Wiedervorlagefristen. Der Zeuge überträgt die Ausschlußfrist in rot sofort nach Empfang des eingegangenen Schriftstücks auf ein solches neu anzulegendes Karteiblatt und vermerkt darauf auch einen Wiedervorlagetermin, der etwa 8 bis 10 Tage vor Ablauf der Ausschlußfrist liegt; es kommt vor, daß- etwa wegen Abwesenheit des zuständigen Bearbeiters - eine Änderung des Wiedervorlagetermins erforderlich wird. Das Karteiblatt wird zunächst unter dem Datum des Wiedervorlagetermins eingeordnet; ist dieser erreicht, legt der Zeuge die Akte dem zuständigen Bearbeiter vor und ordnet das Karteiblatt nunmehr unter dem Datum des letzten Tages der Ausschlußfrist ein. Um die beim Sachbearbeiter liegende Akte braucht der Zeuge sich von diesem Augenblick an nicht mehr zu kümmern; er hat jedoch die Ausschlußfrist zu beachten und den Sachbearbeiter auf deren Ablauf aufmerksam zu machen. Dies geschieht am letzten Tage der Ausschlußfrist. Nach Erledigung wird das Karteiblatt der Kartei entnommen und in die Handakte eingefügt. Das vom Zeugen dargelegte Verfahren gilt für alle Rechtsbehelfe; Klage- und Revisionsfristen werden demnach nicht noch besonders gekennzeichnet."

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das FG im wesentlichen ausgeführt: Der Klägerin könne keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, da die Sozietät die Klagefrist schuldhaft versäumt habe. Entgegen der Auffassung der Klägerin sei die Klagefrist nicht infolge eines Büroversehens versäumt worden. Die von der Sozietät getroffene Organisation der Fristenkontrolle weise einige gewichtige Mängel auf, die der Sozietät zuzurechnen seien. So sei der Umstand ein Mangel, daß in der Fristenkartei, die alle Fristen festhalte, nicht deutlich genug zwischen gewöhnlicher Wiedervorlage- und sonstigen innerbetrieblichen Bearbeitungsfristen einerseits und gesetzlichen Ausschlußfristen andererseits unterschieden werde. Zur Sicherung einer ordnungsgemäßen Überwachung von Ausschlußfristen wäre bei diesem Verfahren erforderlich gewesen, Karteiblätter in hervorstechender Farbe und herausragendem Format einzusetzen, die schon bei oberflächlichem Einblick in die Kartei augenfällig hervorträten und so die Unterscheidung von den rein innerbetrieblichen Fristen auf Anhieb gewährleisteten. Weiter erfülle das hier geübte Verfahren, lediglich den letzten Tag der Ausschlußfrist in rot auf dem neu angelegten einheitlichen Karteiblatt einzutragen, das Blatt selbst aber unter einem früheren Wiedervorlagedatum einzuordnen, nicht den Erfordernissen einer von vornherein auf die Beachtung der Ausschlußfrist abzielenden Fristenkontrolle. Die erforderliche wiederholte Einordnung der Karteikarten erhöhe die Fehlermöglichkeit, zumal - so auch im Streitfall - gelegentlich nacheinander mehrere Wiedervorlagetermine eingetragen würden, ohne daß die Kartei gleichzeitig den allein rechtserheblichen Termin der Ausschlußfrist anzeige. Schließlich sei es ein ernster Organisationsmangel, daß die Handakten bei Wiedervorlage an den Bearbeiter nicht besonders als Fristensache gekennzeichnet seien (Hinweis auf Urteil des BGH vom 30. Januar 1969 VIII ZR 71/68, Versicherungsrecht 1969 S. 450 - VersR 1969, 450 -), zumal die Sozietät über 1 000 Mandanten zu betreuen habe und täglich zahlreiche Termine anfielen. Bei augenfälliger Kennzeichnung der Handakte, die dem Sachberabeiter X rd. zehn Tage vor Ablauf der Klagefrist vorgelegt worden sei, wäre der Fehler zu vermeiden gewesen.

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 56 Abs. 1 FGO. Zu Unrecht stelle das FG die Brauchbarkeit einer Fristenkartei zur Fristüberwachung gegenüber einem Fristenkontrollbuch schlechthin in Zweifel. Nach der Rechtsprechung des BFH müsse eine Fristenkartei unter den gleichen Voraussetzungen als ordnungsgemäß angesehen werden wie ein Fristenkontrollbuch. Wenn das FG als Mangel ansehe, daß nicht deutlich genug zwischen gewöhnlichen Wiedervorlagefristen und gesetzlichen Ausschlußfristen unterschieden werde, so habe es nicht beachtet, daß auch in einem Fristenkontrollbuch oder -kalender die Blätter keine farblichen Unterschiede aufwiesen, alle Fristen festgehalten würden und die Unterscheidung auch nur durch unterschiedliche Farbmarkierung der einzelnen Fristen erfolge (BFH-Beschluß vom 7. August 1970 VI R 24/67, BFHE 100, 71, BStBl II 1970, 814). Die Forderung nach einer Verwendung von Karteiblättern mit herausragendem Format stelle die Übersichtlichkeit der gesamten Kartei in Frage. Als Organisationsmangel könne auch nicht angesehen werden, daß das Karteiblatt mit der in rot eingetragenen Ausschlußfrist unter einem früheren Wiedervorlagetermin eingeordnet werde. Dadurch werde die Überwachung des Ablaufs der Ausschlußfrist nicht erschwert. Nach Erreichen und Streichen des früheren Wiedervorlagetermins, dessen Änderung nur in Ausnahmefällen vorkomme, werde das Karteiblatt unter dem in rot eingetragenen Datum erneut eingeordnet. Eine besondere Kennzeichnung von Akten als Fristensache sei nicht erforderlich, da in der Sozietät, wie dem FG bekannt gewesen sei, die Akten unterschiedliche Farben hätten. Die Vorlage einer blauen Schriftwechselakte bedeute daher ausnahmslos, daß es sich um eine Fristensache handele. Für die Beurteilung der Ordnungsmäßigkeit der Fristenkontrolle sei im übrigen unerheblich, ob der Bearbeiter innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden Frist tätig geworden sei oder nicht. Wolle man die Entscheidung darauf abstellen, ob den Bearbeiter ein Verschulden treffe, so würde vom Zeitpunkt der ersten Vorlage der Fristsache die Verantwortlichkeit für die Fristwahrung vom Bürovorsteher auf den Bearbeiter übergehen. Dadurch würde eine Überwachung des Ablaufs einer Ausschlußfrist durch den Bürovorsteher bedeutungslos werden. Vom Bearbeiter könne jedoch nicht verlangt werden, zusätzlich die fristgerechte Absendung der Fristsache zu kontrollieren.

Die Klägerin beantragt, das Urteil unter Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Das FA ist der Revision entgegengetreten.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf eine mündliche Verhandlung vor dem Senat verzichtet (§§ 90 Abs. 2, 121 FGO).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Das FG hat der Klägerin zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwehrt, da die Klagefrist aus Verschulden der Sozietät nicht eingehalten worden ist. Deren Verschulden steht dem Verschulden der Klägerin gleich (§ 155 FGO i. V. m. § 232 Abs. 2 ZPO; BFH-Urteil vom 2. Mai 1973 VIII R 72/71, BFHE 109, 297, BStBl II 1973, 663, mit weiteren Nachweisen). Die Fristversäumung war nicht die Folge eines Büroversehens, für das nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Entschuldigungsmöglichkeit zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht, wenn Organisation und Überwachung der Büroangestellten durch den Bevollmächtigten selbst nicht zu beanstanden sind (z. B. BFH-Urteile vom 3. März 1961 III 465/59, StRK, Reichsabgabenordnung, § 86, Rechtsspruch 51; vom 13. September 1956 V 123/56 U, BFHE 63, 341, BStBl III 1956, 327). Sie war vielmehr die Folge eines der Sozietät zuzurechnenden Fehlers in der Organisation der Fristenüberwachung.

Ob schon der Umstand, daß die Kartei alle Fristen enthält und in ihr nur weiße Karteikarten gleicher Größe verwendet werden, einen Organisationsmangel darstellt, vermag der Senat mangels ausreichender tatrichterlicher Feststellungen nicht zu beurteilen. Welche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Fristenüberwachung zu stellen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere auch von der Größe des Kanzleibetriebes, ab. Je mehr Fristen zu beachten sind, umso größer sind die Anforderungen, die an die Organisation der Fristenüberwachung zu stellen sind, und zwar bis hin zur völligen Trennung der Überwachung der normalen Fristen und der Ausschlußfristen. Zwar hat die Sozietät mehr als 1 000 Mandanten zu betreuen. Die finanzgerichtliche Feststellung, es fielen täglich zahlreiche Termine an, ist aber zu unbestimmt, um die Entscheidung insoweit zu tragen.

Der Senat hat den Sachverhalt insoweit nicht weiter aufzuklären, da das FG den für die Fristversäumung ursächlichen Organisationsmangel aus folgenden Gründen zu Recht bejaht hat: Eine ordnungsmäßige Fristenüberwachung erfordert die Einrichtung eines Fristenkontrollbuches, Fristenkalenders oder einer ähnlichen Einrichtung. Die Kartei ist eine solche ähnliche Einrichtung. Eine ordnungsmäßige Handhabung jeder dieser Einrichtungen hat aber zur Voraussetzung, daß der Fristablauf für jede einzelne Sache sofort nach Eingang endgültig vermerkt wird. Diese Voraussetzung erfüllt die von der Sozietät praktizierte Fristenkontrolle nicht. Zwar wird auf der Karteikarte sogleich die Ausschlußfrist notiert; die Kartei wird aber nicht unter dem endgültigen Termin eingeordnet. Damit ist die Ausschlußfrist noch nicht endgültig i. S. einer ordnungsmäßigen Fristenkontrolle vermerkt. Auch in einem Fristenkontrollbuch oder Fristenkalender müßten nach Eingang der Sache sowohl die Vorfrist als auch die Ausschlußfrist notiert werden. Der Vermerk zunächst nur der Vorfrist und - dieses Beispiel wäre dem zu entscheidenden Fall ähnlich - die erst spätere Eintragung der endgültigen Ausschlußfrist bei Erreichen der Vorfrist könnten ebenfalls nicht als ordnungsgemäße Fristenüberwachung angesehen werden. Im vorliegenden Fall wäre die Fristenüberwachung nur dann ordnungsgemäß gewesen, wenn nach Vermerk der Ausschlußfrist auf der Karteikarte diese unter der entsprechenden Ausschlußfrist eingeordnet worden wäre. Die Vorfrist oder sonstige die Sache betreffenden Wiedervorlagetermine hätten auf gesonderten Karteikarten vermerkt und diese unter den entsprechenden Terminen eingeordnet werden müssen.

Als weiteren Mangel hat das FG zutreffend den Umstand bewertet, daß die Handakte nicht besonders als Ausschlußfristsache gekennzeichnet war. Insoweit folgt der Senat der vom FG zitierten Rechtsprechung des BGH (Urteil VIII ZR 71/68). Daß nach dem erstmaligen Vortrag in der Revision die Schriftwechselakte im Gegensatz zu anderen Akten wegen des blauen Einbandes als solche zu erkennen war, reicht nicht aus. Der blaue Einband läßt nicht erkennen, daß es sich um eine Sache mit einer alsbald ablaufenden Ausschlußfrist handelt. Der Vortrag ist damit - selbst wenn er als Verfahrensrüge verstanden werden sollte - unerheblich.

Abschließend weist der Senat noch darauf hin, daß die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch noch - unabhängig von den oben behandelten Organisationsmängeln - aus einem anderen Grund zu versagen gewesen wäre. Nach Feststellung des FG ist dem Sachbearbeiter X die Handakte rd. zehn Tage vor Ablauf der Klagefrist zur Bearbeitung zugeleitet worden. Damit war das Stadium der Fachbearbeitung erreicht. Von diesem Zeitpunkt an traf den Sachbearbeiter die volle Verantwortung für die fristgerechte Bearbeitung der Sache. Er konnte sich nicht darauf verlassen, der Bürovorsteher werde ihn am letzten Tag der Frist an deren Ablauf erinnern. Dieser bei der Fachbearbeitung unterlaufene Fehler beruht nicht auf einem bloßen Büroversehen bei der bürotechnischen Durchführung der Fristenkontrolle (vgl. auch BFH-Urteil vom 28. Juli 1961 III 455/59 U, BFHE 73, 499, BStBl III 1961, 447, und BGH-Beschluß vom 19. April 1972 IV ZB 22/72, VersR 1972, 694 mit weiteren Nachweisen). Die Verantwortung für die Säumnis kann deshalb nicht durch den Nachweis ersetzt werden, daß die nach anerkannten Grundsätzen organisierte sowie personell sorgfältig ausgewählte und überwachte Kanzlei im Einzelfall der ihr auferlegten Pflicht zur Erinnerung des Sachbearbeiters an die Erledigung nicht nachgekommen sei.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72386

BStBl II 1977, 643

BFHE 1978, 251

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