Leitsatz (amtlich)

Hat ein Steuerpflichtiger seinen Einkommensteuer-Bescheid wegen eines bestimmten Fehlers des FA angegriffen und hat er in diesem Punkt recht, so kann gleichwohl keine niedrigere Einkommensteuer festgesetzt werden, wenn sich herausstellt, daß das FA in einem anderen Punkt einen Fehler zugunsten des Steuerpflichtigen gemacht hat und dieser Fehler jenen Fehler "aufwiegt". Das FG kann aber keine höhere Einkommensteuer festsetzen, selbst wenn die Berichtigung des Fehlers, der zugunsten des Steuerpflichtigen begangen wurde, sie rechtfertigen würde.

 

Normenkette

FGO §§ 96, 100

 

Tatbestand

Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Jahr 1964 erkannte das FA zunächst beschränkt im Steuerbescheid und dann etwas weitergehend in der Einspruchsentscheidung verschiedene Aufwendungen der Steuerpflichtigen, die in einem Pelzgeschäft als Verkaufsleiterin tätig war, als Werbungskosten an. Eine Reihe von Aufwendungen wurde aber nicht als Werbungskosten anerkannt, weil sie die Lebenshaltung beträfen. Im Rahmen der von der Steuerpflichtigen geltend gemachten außergewöhnlichen Belastung wurden von den angesetzten Aussteueraufwendungen die Kosten für die Anschaffung von Silberbestecken und Wäsche im Gesamtbetrage von 2 750,80 DM nur in Höhe von 375 DM berücksichtigt, weil die Gegenstände bereits seit dem Jahre 1953 laufend angeschafft worden seien und ein Zusammenhang mit der Heirat der Tochter im Jahre 1964 nur in Höhe dieser 375 DM bestehe. Eine Berücksichtigung der von der Steuerpflichtigen geltend gemachten Aufwendungen für den Unterhalt ihrer Tochter vom 1. Januar 1964 bis 20. Juni 1964 - dem Tag der Heirat - lehnte das FA ebenfalls ab.

Die Klage führte zu einer Herabsetzung der Einkommensteuer von 5 605 DM auf 5 415 DM. Das FG erkannte von den vom FA abgelehnten (der Lebenshaltung zugerechneten) Aufwendungen 367,50 DM Kosten für Kleiderreinigung als Werbungskosten an, weil die Steuerpflichtige glaubhaft dargelegt habe, daß ihre Kleider wegen ihres Umgangs mit unbearbeiteten gefärbten Pelzen einer besonders starken Verschmutzung unterlägen. Außerdem ließ es die von der Steuerpflichtigen geltend gemachten Unterhaltsaufwendungen für ihre Tochter im Betrage von 147 DM zum Abzug als Freibetrag nach § 33a EStG zu. Obgleich das FG mit dem FA darin einig war, daß die Aufwendungen für Silberbestecke und Wäsche überhaupt nicht - also auch nicht in Höhe von 375 DM - als außergewöhnliche Belastung hätten berücksichtigt werden dürfen, weil die Steuerpflichtige ihrer Tochter diese Gegenstände bereits vor dem Jahr 1964 überlassen habe, hielt das FG es mit dem Verböserungsverbot für unvereinbar, dem Antrag des FA zu entsprechen, nämlich den Fehler bei der Anerkennung der Aussteueraufwendungen in Höhe von 375 DM zu beseitigen und die sich daraus ergebende Mehrsteuer mit der Steuerermäßigung zu verrechnen, die sich aus der Anerkennung der Reinigungskosten als Werbungskosten und der Zubilligung des Unterhaltsfreibetrags nach § 33a EStG ergebe.

Mit seiner - vom FG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache ausdrücklich zugelassenen - Revision rügt das FA Verletzung der §§ 96, 100 FGO. Nach seiner Ansicht hat das FG verkannt, daß nicht jeweils die einzelne strittige Besteuerungsgrundlage, sondern der Steuerbescheid als solcher den Steuergegenstand bilde und die Frage der Verböserung demnach nur in bezug auf die festgesetzte (angegriffene) Steuer einerseits und die festzusetzende Steuer andererseits zu beurteilen sei. Es beantragt, die Steuer von 5 605 DM statt auf 5 415 DM nur auf 5 552 DM herabzusetzen.

Die Steuerpflichtige ist demgegenüber der Ansicht, daß das Vorgehen des FG der Regelung der FGO und insbesondere der des § 100 Abs. 1 FGO mit seinem "soweit" entspreche. Sie sieht in der vom FA begehrten Steuerfestsetzung eine unzulässige Verböserung.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision muß zur Aufhebung der Vorentscheidung führen.

Dem FG ist zwar zuzugeben, daß nach dem Inkrafttreten der FGO eine Verböserung in dem finanzgerichtlichen Verfahren - anders als im Einspruchsverfahren (§ 248 Abs. 1 Satz 2 AO n. F.) - nicht möglich ist. Im Gegensatz zur Ansicht des FG ist aber im Falle der Anfechtung eines Steuerbescheids die Frage, ob eine Verböserung vorliegt, nicht nach den einzelnen Punkten, um die gestritten wird, sondern danach zu beurteilen, ob der durch den Steuerbescheid festgesetzte Steuerbetrag im Endergebnis überschritten wird.

Das Verbot der Verböserung besagt, daß der Steuerpflichtige, ficht er einen Steuerbescheid an, nicht damit zu rechnen braucht, daß die von ihm beanstandete Steuer nicht nur nicht - wie beantragt - ermäßigt, sondern sogar erhöht wird. Was als Verböserung anzusehen ist, kann ohne die Beantwortung der Frage, was im Falle der Anfechtung eines Steuerbescheids der Streitgegenstand sei, nicht entschieden werden. Diese - in dem Zeitpunkt der Entscheidung des FG noch offene - Frage ist aber von dem Großen Senat des BFH in dem Beschluß Gr. S 1/66 vom 17. Juli 1967 (BFH 91, 393, BStBl II 1968, 344) dahin beantwortet worden, daß nicht das einzelne Besteuerungsmerkmal, sondern die Rechtmäßigkeit des die Steuer festsetzenden Steuerbescheids den Steuergegenstand bildet. Das bedeutet auf den vorliegenden Fall bezogen, daß die Einkommensteuer, die sich nach der "Verrechnung" statt mit 5 415 DM nur mit 5 552 DM ergibt, immer noch unter dem angegriffenen (ursprünglichen) Betrag von 5 605 DM liegt, die vom FA beantragte Festsetzung auf 5 552 DM also keine Verböserung darstellt.

Der erkennende Senat sieht keine Bedenken, der Entscheidung des Großen Senats zu folgen. Wenn diese auch im Schrifttum angegriffen worden ist, so sind die vom Großen Senat dargelegten Gründe doch überzeugend. Wer meint, daß bei dieser Auffassung die FG nach wie vor einen verlängerten Arm der Finanzverwaltung darstellten, übersieht, daß auch nach dieser Auffassung eine Verböserung nicht möglich ist und daß auch die FGO die FG nicht so stellt, daß sie lediglich auf die Prüfung des ihnen Vorgetragenen angewiesen wären. Selbstverständlich wird das FG den ihm vorgelegten Fall in aller Regel nicht von Grund auf zu prüfen brauchen. Wo sich aber Zweifel in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht ergeben, läßt die Entscheidung des Großen Senats dem FG die Möglichkeit offen, den richtigen Sachverhalt zu ermitteln und dementsprechend die richtige Steuer festzusetzen, eine Möglichkeit, die, wie nicht übersehen werden darf, sowohl dem Steuerpflichtigen als auch dem FA zugute kommen kann, diesem allerdings wegen des Verböserungsverbots nur beschränkt.

Das angefochtene Urteil war danach wegen Rechtsirrtums aufzuheben. Die Sache ist, weil hinsichtlich der sich nach der "Verrechnung" ergebenden Einkommensteuer kein Streit und übrigens auch kein Bedenken besteht, spruchreif. Die Einkommensteuer war danach unter Änderung der Einspruchsentscheidung und des Steuerbescheids auf 5 552 DM festzusetzen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68403

BStBl II 1969, 169

BFHE 1969, 310

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