Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Tragweite des Grundsatzes von Treu und Glauben bei der Steuerfestsetzung

 

Leitsatz (NV)

1. Die Finanzbehörden sind verpflichtet, die nach dem Gesetz entstandenen Steueransprüche geltend zu machen und die für die Entstehung und den Umfang des Steueranspruchs maßgebenden Besteuerungsgrundlagen festzustellen.

2. Nur ausnahmsweise können die Finanzbehörden nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert sein, einen nach dem Gesetz entstandenen Steueranspruch geltend zu machen.

 

Normenkette

GG Art. 20

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die u. a. durch gemeinsames Auftreten als Artisten Einnahmen erzielen. Diese Einnahmen hat der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) seit dem Veranlagungszeitraum 1966 als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i. S. des § 19 des Einkommensteuergesetzes (EStG) angesehen und veranlagt. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) hat das FA damals im Einspruchsverfahren geprüft, ob die Einkünfte der Kläger aus ihrer Artistentätigkeit solche aus nichtselbständiger Arbeit oder solche aus unternehmerischer Tätigkeit sind, mit dem Ergebnis, daß Arbeitnehmereinkünfte vorliegen.

Aufgrund einer Außenprüfung für die Streitjahre (1978 bis 1980) kam das FA zur Überzeugung, daß die Kläger seinerzeit gewerblich tätig waren. Demgemäß erließ es für die Jahre 1978 bis 1980 erstmals Umsatzsteuerbescheide.

Das FG hat der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage stattgegeben. Es meinte, das FA sei nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert gewesen, die Kläger für die Streitjahre zur Umsatzsteuer zu veranlagen. Diese hätten aufgrund des Ergebnisses des Einspruchsverfahrens für das Jahr 1966 und der Einkommensteuerbescheide für die Folgejahre darauf vertrauen dürfen, daß sie als nichtselbständige Arbeitnehmer nicht zur Umsatzsteuer herangezogen würden. Sie hätten es deshalb unterlassen, die Umsatzsteuer ihren Auftraggebern zusätzlich in Rechnung zu stellen.

Mit seiner Revision rügt das FA, das Urteil verletze den Grundsatz der Abschnittsbesteuerung sowie der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Für jeden Steuerabschnitt seien die Grundlagen der Besteuerung neu festzustellen sowie Sachverhalt und Rechtslage neu zu prüfen. Diese Grundsätze dürften nur ausnahmsweise durchbrochen werden; ein solcher Ausnahmefall liege hier nicht vor. Im übrigen könne von der steuerlichen Beurteilung der im Jahre 1966 durchgeführten Verträge bereits deshalb keine Bindung ausgehen, da es darauf ankomme, wie die Vertragsverhältnisse in den Streitjahren konkret ausgestaltet gewesen seien.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Kläger waren mit ihren Umsätzen in den Streitjahren zur Umsatzsteuer zu veranlagen, wenn sie mit ihren artistischen Vorführungen als selbständige Unternehmer i. S. des § 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1967/80 tätig waren, was das FG zugunsten des FA unterstellt oder jedenfalls für möglich gehalten hat.

Die Finanzbehörden sind verpflichtet, die nach dem Gesetz entstandenen Steueransprüche geltend zu machen und die für die Entstehung und den Umfang des Steueranspruchs maßgebenden Feststellungen der Besteuerungsgrundlagen durchzuführen (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes - GG -; Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 12. Februar 1969 1 BvR 687/62, BVerfGE 25, 216, 228, BStBl II 1969, 364, 368). Nur ausnahmsweise können die Finanzbehörden nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gehindert sein, einen nach dem Gesetz entstandenen Steueranspruch geltend zu machen oder Besteuerungsgrundlagen in der dem Gesetz entsprechenden Höhe festzustellen (Bundesfinanzhof - BFH -, Urteil vom 16. März 1983 IV R 36/79, BFHE 138, 223, BStBl II 1983, 459 unter 4 c).

Der Streitfall ist kein derartiger Ausnahmefall. Allein die Tatsache, daß das FA die Tätigkeit der Kläger im Jahre 1966 im Einspruchsverfahren als nichtselbständige Arbeit qualifiziert hat und hieran auch in den Folgejahren bis zur Außenprüfung für die Streitjahre festhielt, rechtfertigt es nicht, von einer gesetzlich gebotenen Umsatzsteuerveranlagung der Kläger abzusehen.

Zu Unrecht stützt sich das FG für seine gegenteilige Ansicht auf die von ihm zitierten BFH-Urteile.

Im BFH-Urteil vom 15. Dezember 1966 V 181/63 (BFHE 87, 469, BStBl III 1967, 212) ging es um die Frage, ob Umsätze, die ursprünglich als steuerfrei behandelt worden waren, anläßlich einer Betriebsprüfung im Jahre 1960 als steuerpflichtig behandelt werden durften. Der BFH bejahte dies ausdrücklich für das Jahr 1958, da für dieses Jahr noch keine Umsatzsteuerveranlagung durchgeführt worden war. Lediglich für die Vorjahre, für die bereits Umsatzsteuerbescheide vorlagen, in denen die fraglichen Umsätze als steuerfrei behandelt worden waren, prüfte der BFH, ob das FA nach Treu und Glauben gehindert war, diese zu ändern. Im Streitfall geht es nicht um derartige Änderungsbescheide, sondern um Erstbescheide. Das vom FG zitierte Urteil spricht deshalb nicht für, sondern gegen die Auffassung des FG.

Im BFH-Urteil vom 25. Oktober 1977 VII R 5/74 (BFHE 124, 105, BStBl II 1978, 274) ging es um die Frage, ob die Inanspruchnahme eines Zollschuldners durch Nachforderungsbescheid gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt, nachdem das Zollamt die Ware zunächst rechtsirrtümlich zum freien Verkehr zollfrei abgefertigt hatte. Der BFH verneinte dies im entschiedenen Fall, da der Zollschuldner wußte, daß die eingeführte Ware nicht zollfrei war. Diese Entscheidung rechtfertigt nicht den Umkehrschluß, daß ein Steuerpflichtiger immer dann nach Treu und Glauben zu schützen sei, wenn er glaubt, nicht steuerpflichtig zu sein, und die Finanzbehörde diesen Glauben verursacht hat.

In dem BFH-Urteil vom 20. Oktober 1971 I R 63/70 (BFHE 104, 154, BStBl II 1972, 273) ging es darum, ob dem Steuerpflichtigen aufgrund einer Betriebsprüfung bestimmte Steuervergünstigungen versagt werden durften, weil seine Buchführung nicht ordnungsgemäß war. Der BFH meinte, es sei mit dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht vereinbar, der Buchführung im geprüften Jahr die Anerkennung als ordnungsgemäß zu versagen, wenn dem FA die - nicht ordnungsgemäße - Art der Kassenführung bekannt gewesen sei und es sie jahrelang ohne Beanstandung hingenommen habe. Auch diese Entscheidung kann nicht in dem vom FG befürworteten Sinne verallgemeinert werden.

Nach dem BFH-Urteil vom 13. Januar 1970 I R 122/67 (BFHE 98, 41, BStBl II 1970, 352) verstößt es gegen Treu und Glauben, wenn das FA bei Umwandlung einer Einzelfirma in eine GmbH und Verpachtung der bisherigen Betriebsgrundstücke und Gebäude des Einzelunternehmens an die GmbH im Jahre 1957 eine Geschäftsaufgabe annimmt und die stillen Reserven der Einzelfirma versteuert, dann aber im Jahre 1962 im Anschluß an eine Betriebsprüfung für zurückliegende Jahre in dem Vorgang eine Betriebsaufspaltung sieht und die Pachterträge als Gewerbeertrag zur Gewerbesteuer heranzieht. Eine vergleichbare widersprüchliche Steuerfestsetzung zum Nachteil des Steuerpflichtigen liegt im Streitfall nicht vor.

Nach dem BFH-Urteil vom 16. März 1965 I 54/64 S (BFHE 82, 387, BStBl III 1965, 388) war das FA bei einer Berichtigung des Steuerbescheids nach § 222 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 der Reichsabgabenordnung (AO) trotz des Grundsatzes der Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalls in der Regel an seine im vorausgegangenen Rechtsmittelverfahren vertretene Rechtsauffassung gebunden. Die Rechtsgrundsätze dieser Entscheidung sind seit Inkrafttreten der Abgabenordnung (AO 1977) nicht mehr ohne weiteres anwendbar, da bei einer Änderung eines Steuerbescheides wegen neuer Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AO 1977 nicht mehr der gesamte Steuerfall wiederaufzurollen ist. Nach § 173 Abs. 1 AO 1977 sind Steuerbescheide nur insoweit aufzuheben oder zu ändern, als Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren oder niedrigeren Steuer führen. Insoweit entspricht die Änderungsvorschrift des § 173 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AO 1977 nicht der Berichtigungsvorschrift des § 222 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AO. Hinzu kommt, daß im hier entscheidenden Fall für die Streitjahre gar kein Rechtsmittelverfahren stattgefunden hatte, so daß auch der Sachverhalt nicht mit dem des zitierten BFH-Urteils vergleichbar ist.

Nach dem BFH-Urteil vom 5. März 1970 IV 213/65 (BFHE 100, 1, BStBl II 1970, 793) kann der Anspruch auf Erlaß eines Gewerbesteuermeßbescheids verwirkt sein, wenn die Frage der Einkunftsart (freiberuflich oder gewerblich) streitig ist, die Gewerbesteuervorauszahlung nach Prüfung dieser Frage auf 0 DM festgesetzt wurde und auch aus späteren Einkommensteuerveranlagungen deutlich zu erkennen war, daß das FA die Tätigkeit des Steuerpflichtigen als freiberuflich beurteilte. Der Steuerpflichtige darf dann darauf vertrauen, daß das FA für die jeweils abgelaufenen Erhebungszeiträume keine Gewerbesteuerveranlagung mehr durchführen wird. Dies soll jedoch erst von dem Zeitpunkt ab gelten, in dem der Steuerpflichtige den Einkommensteuerbescheid für das nächste Jahr erhält; erst in diesem Zeitpunkt darf er sich darauf verlassen, daß das FA nunmehr für das vorhergehende Jahr keine Gewerbesteuerveranlagung mehr durchführen wird. Die entsprechende Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall ergibt: Die Kläger durften aufgrund der Einkommensteuerbescheide, die gegen sie ergangen waren, nicht darauf vertrauen, daß sie nicht mehr zur Umsatzsteuer herangezogen werden. In den Einkommensteuerbescheiden war zwar ihre artistische Tätigkeit als nichtselbständige Arbeit qualifiziert worden, so daß konsequenterweise auch ihre Unternehmereigenschaft nach § 2 UStG zu verneinen war. Da die Einkommensteuerbescheide für 1978 bis 1980 aber unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen waren, durften die Kläger noch nicht sicher darauf vertrauen, daß das FA bei seiner Ansicht bleibe und die Kläger nicht mehr zur Umsatzsteuer veranlagen werde. Der Vorbehalt der Nachprüfung verhindert grundsätzlich den für die Bindung nach Treu und Glauben notwendigen Vertrauenstatbestand (BFH-Beschlüsse vom 20. März 1990 V B 123/89, BFH/NV 1991, 127, und V B 111/89, BFH/NV 1991, 63).

Demnach war das FA nicht durch die Grundsätze von Treu und Glauben gehindert, die Kläger entsprechend den Bestimmungen des UStG zu veranlagen.

Dem Senat ist es nicht möglich, in der Sache selbst zu entscheiden. Da das FG keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob die Kläger mit ihren Artistenvorführungen als selbständige Unternehmer tätig geworden sind, war die Sache an das FG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 417759

BFH/NV 1992, 217

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