Entscheidungsstichwort (Thema)

Umfang der Sachaufklärungspflicht des FG bei Beweisanträgen der Verfahrensbeteiligten

 

Leitsatz (NV)

1. Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Das Gericht ist dabei an das Vorbringen und die Beweisanträge nicht gebunden. Das gilt aber nur in dem Sinne, daß das FG von sich aus auch Beweise erheben kann, die von den Parteien nicht angeboten sind (vgl. BFH-Urteil vom 22. April 1988 II R 59/83, BFH/NV 1989, 38).

2. Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muß das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will. Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn es auf das Beweismittel für die Entscheidung nicht ankommt oder das Gericht die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsachen zugunsten der betreffenden Partei unterstellt, oder das Beweismittel nicht erreichbar ist. Auch ist das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen.

3. Die Rechtsprechungsgrundsätze, nach denen bei verzichtbaren Verfahrensmängeln unter bestimmten Voraussetzungen das Rügerecht verloren gehen kann, gelten nur in den Fällen uneingeschränkt, in denen der Beteiligte vor dem FG durch einen rechtskundigen Prozeßbevollmächtigten vertreten war. Tritt der Beteiligte hingegen ohne Rechtsbeistand auf, kann ihm die Unkenntnis solcher Verfahrensverstöße regelmäßig nicht zugerechnet werden.

 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 1, § 160 Abs. 2 a. F, § 155; ZPO § 295

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) kaufte durch notariell beurkundeten Vertrag vom 22. April 1982 ein aus mehreren Teilparzellen bestehendes Grundstück zu dem Kaufpreis von ... DM. Nachdem der Kläger erklärt hatte, die Absicht zu haben, innerhalb der nächsten fünf Jahre einen ... -Betrieb zu errichten und zu betreiben, stellte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) den Grunderwerb des Klägers antragsgemäß nach § 1 Nr. 1 des früheren Nordrhein-Westfälischen Gesetzes über Grunderwerbsteuerbefreiung bei Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftsstruktur (GrEStStrukturG) vorläufig von der Grunderwerbsteuer frei und erteilte am 20. Juli 1982 die Unbedenklichkeitsbescheinigung.

Auf dem erworbenen Grundstück, auf dem bereits von der Voreigentümerin ein ... -Betrieb unterhalten wurde, nahm ab Mitte 1982 eine Zweigniederlassung der A-GmbH & Co. KG einen ... -Betrieb auf, der zumindest bis in das Jahr 1988 fortgeführt wurde. Der Kläger selbst gründete im Frühjahr 1987 einen ... -Betrieb, dessen Geschäftsräume sich auf dem streitigen Grundstück befanden und der am ... März 1987 ins Handelsregister eingetragen wurde. In der an die Stadt X gerichteten Gewerbeanmeldung vom 1. April 1987 gab der Kläger als Datum des Beginns der angemeldeten Tätigkeit den 1. April 1987 an. In der für das FA bestimmten Ausfertigung einer Gewerbeanmeldung vom 24. Juli 1987 teilte der Kläger mit, mit der gewerblichen Tätigkeit des anzumeldenden Unternehmens am 1. August 1987 zu beginnen. Für die Einzelfirma gab der Kläger gegenüber dem FA ab dem 3. Kalendervierteljahr 1987 Lohnsteueranmeldungen ab, in der die zu zahlende Steuer mit 0 DM angegeben wurde. Gegenüber der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) wurde die Aufnahme der Tätigkeit von vier Arbeitnehmern für den Betrieb des Klägers ab dem 1. Oktober 1987 angemeldet. Die Arbeitnehmer waren zuvor bei der A-GmbH & Co. KG beschäftigt. Der Kläger hat mit Datum vom 24. Juli 1987 Rechnungen erstellt. Als Anlage war jeweils eine Rechnung der A- GmbH & Co. KG beigefügt. Diese Rechnungen betreffen Arbeiten in dem Zeitraum vom 2. Juli 1987 bis 17. Juli 1987.

Das FA sah die Voraussetzungen für die beantragte Steuerbefreiung nach dem GrEStStrukturG nicht als erfüllt an und setzte durch Bescheid vom 22. September 1989 Grunderwerbsteuer gegen den Kläger fest.

Einspruch und Klage des Klägers blieben ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) begründete seine klageabweisende Entscheidung im wesentlichen damit, der Kläger habe nicht innerhalb der Verwendungsfrist, die mit dem 20. Juli 1987 abgelaufen sei, mit einer ... -Tätigkeit auf dem streitigen Grundstück begonnen. Der Kläger habe zum Zeitpunkt der Aufnahme der Betriebstätigkeit widersprüchliche Angaben gemacht. Die Angaben des Klägers, die für eine Aufnahme der Betriebstätigkeit vor dem 20. Juli 1987 sprächen, reichten deshalb als Indiz für die rechtzeitige Aufnahme der ... -Tätigkeit nicht aus. Auch die auf den Namen der Einzelfirma lautenden Rechnungen verlören an Gewicht. Es sei anzunehmen, daß nicht nur hinsichtlich der Kostenfaktoren eine nachträgliche Aufteilung von ... -Tätigkeit auf KG und Einzelfirma durchgeführt worden sei und die Einzelfirma ihre betriebliche Tätigkeit jedenfalls nicht vor dem 20. Juli 1987 aufgenommen habe. Das werde auch durch die Lohnsteueranmeldung für das 3. Kalendervierteljahr 1987 sowie durch das Verhalten des Klägers gegenüber der AOK bestätigt.

Einer weiteren Sachaufklärung bedürfe es nicht. Soweit der Kläger schriftlich den früheren Prokuristen der Firma A-GmbH & Co. KG, Herrn B, als Zeugen für die Aufnahme des Geschäftsbetriebs der Einzelfirma benannt habe, liege kein ordnungsgemäßer Beweisantritt vor. Denn die Aufnahme des Geschäftsbetriebs stelle das Ergebnis der Würdigung verschiedener Tatsachen dar. Konkrete Einzeltatsachen, die auf die Aufnahme des Geschäftsbetriebs schließen ließen und die in das Wissen des Zeugen gestellt würden, habe der Kläger nicht behauptet. Der in der mündlichen Verhandlung nicht wiederholte Beweisantrag stelle daher lediglich einen unzulässigen Ausforschungsbeweisantrag dar.

Hiergegen richtet sich die vorliegende Revision des Klägers. Dieser macht in materieller Hinsicht fehlerhafte Anwendung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStStrukturG geltend.

Als Verfahrensmangel rügt der Kläger mangelnde Sachaufklärung, weil das FG einen seiner Beweisanträge übergangen habe. Das FG sei verpflichtet gewesen, den mit Schriftsatz vom 19. März 1992 angebotenen Zeugenbeweis (Herr B) zu erheben. Dieser Zeuge sei seinerzeit Prokurist der Firma A- GmbH & Co. KG gewesen und hätte die behaupteten Umsätze des Einzelunternehmens vor Ablauf der Verwendungsfrist bestätigen können. Das FG hätte nach Vernehmung dieses Zeugen möglicherweise zu der Überzeugung gelangen können, daß die Voraussetzungen für die beantragte Steuerbefreiung vorlagen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des FG vom 26. März 1993, die Einspruchsentscheidung des FA vom 4. Januar 1991 sowie den Grunderwerbsteuerbescheid vom 22. September 1989 aufzuheben.

Das FA beantragt sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet und führt wegen eines Verfahrensmangels zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (vgl. § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

Dem Senat ist zwar die Prüfung, ob das finanzgerichtliche Urteil in materieller Hinsicht rechtsfehlerfrei ist, versagt, da das frühere Nordrhein-Westfälische Grunderwerbsteuergesetz (GrEStG) einschließlich der Grunderwerbsteuerbefreiungsgesetze seit Aufhebung des § 160 Abs. 2 FGO durch das FGO-Änderungsgesetz vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 1992, 2109, BStBl I 1993, 90) ab dem 1. Januar 1993 kein revisibles Recht mehr ist, das der Überprüfung durch den Bundesfinanzhof (BFH) unterliegt. Eine Rechtsüberprüfung in verfahrensrechtlicher Hinsicht bleibt davon aber unberührt.

Die Vorentscheidung verletzt die Pflicht des FG zur Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FG hätte dem Antrag des Klägers auf Vernehmung des Prokuristen B als Zeugen entsprechen müssen.

Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Das Gericht ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Das gilt aber nur in dem Sinne, daß das FG von sich aus auch Beweise erheben kann, die von den Parteien nicht angeboten sind (vgl. BFH-Urteil vom 22. April 1988 III R 59/83, BFH/NV 1989, 38). Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muß das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will. Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn es auf das Beweismittel für die Entscheidung nicht ankommt oder das Gericht die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsachen zugunsten der betreffenden Parteien unterstellt oder das Beweismittel nicht erreichbar ist (vgl. BFH-Urteile vom 13. August 1969 II 213/65, BFHE 98, 210, BStBl II 1970, 338; vom 10. Januar 1978 VII R 106/74, BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311, sowie BFH-Urteil vom 12. April 1994 IX R 101/90, BFHE 174, 301, BStBl II 1994, 660). Auch ist das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen (vgl. BFH-Urteil vom 21. Juni 1988 VII R 135/85, BFHE 153, 393, BStBl II 1988, 841, m. w. N.). Der schriftliche Beweisantritt des Klägers war aber im Streitfall hinreichend substantiiert. Der Kläger hatte den Zeugen zum Beweis genannt "für die Aufnahme des Geschäftsbetriebes". Dies ist eine beweisfähige Tatsachenbehauptung, auch wenn sich diese Tatsache erst aus einer Zusammenschau vieler Einzeltatsachen ergeben kann. Eine Pflicht zur Angabe aller dieser Einzeltatsachen, die zusammen die Aufnahme des Geschäftsbetriebs ergeben könnten, wäre eine überspitzte Anforderung an die Zulässigkeit des Beweisantrags. Die Angabe des Klägers war insoweit konkret genug, um dem Gericht eine Grundlage für seine Beweiserhebung zu geben.

Der Kläger hat auch sein Recht, die Nichtvernehmung des von ihm benannten Zeugen als Verfahrensmangel zu rügen, nicht verloren. Ein Verfahrensmangel kann zwar nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn er eine Verfahrensvorschrift betrifft, auf deren Beachtung die Prozeßbeteiligten verzichten können und verzichtet haben (§ 155 FGO i. V. m. § 295 der Zivilprozeßordnung). Zu diesen verzichtbaren Mängeln gehört auch das Übergehen eines Beweisantrages, wie die im Streitfall beantragte Zeugenvernehmung (vgl. BFH-Beschluß vom 31. Januar 1989 VII B 162/88, BFHE 155, 498, BStBl II 1989, 372, 373, m. w. N.). Bei verzichtbaren Verfahrensmängeln geht dabei das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge; ein Verzichtswille ist dafür nicht erforderlich. Diese Rechtsprechungsgrundsätze gelten aber nur in denjenigen Fällen uneingeschränkt, in denen der Beteiligte vor dem FG durch einen rechtskundigen Prozeßbevollmächtigten vertreten war. Tritt der Beteiligte hingegen -- wie im Streitfall -- ohne Rechtsbeistand auf, kann ihm die Unkenntnis solcher Verfahrensverstöße regelmäßig nicht zugerechnet werden (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 115 Anm. 38).

Wegen dieses Verfahrensfehlers bedarf es im Streitfall der Aufhebung des FG-Urteils, weil nicht auszuschließen ist, daß das FG nach ordnungsgemäßer Durchführung der Beweisaufnahme zu einem anderen Ergebnis gelangt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421361

BFH/NV 1996, 757

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