Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachverhaltsermittlungspflicht des FG: Beweisanträge, Sachverständige, Verletzung des rechtlichen Gehörs - Aufteilung von Grundstücksanschaffungskosten auf Gebäude bzw. Grund und Boden -Beklagter i.S. von § 63 Abs.1 Nr.1 FGO nach Zuständigkeitswechsel und Änderungsbescheid - Prüfung der Entscheidungserheblichkeit von Verfahrensmängeln auch bei absoluten Revisionsgründen i.S. des § 119 FGO

 

Leitsatz (amtlich)

Die Berechtigung des FG nach Art.3 § 5 Satz 1 VGFGEntlG, in bestimmten Fällen sein Verfahren nach billigem Ermessen zu bestimmen, erlaubt nicht, einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens mit der Begründung abzulehnen, die hierfür zu erwartenden Kosten stünden in keinem angemessenen Verhältnis zum geringen Streitwert.

 

Orientierungssatz

1. Das FG kann im Rahmen der Sachverhaltsermittlung von sich aus auch Beweise erheben, die von den Parteien nicht angeboten sind. Von den Beteiligten angebotene Beweise muß das FG grundsätzlich erheben, es sei denn, es kommt für die Entscheidung darauf nicht an oder das Gericht unterstellt die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei oder das Beweismittel ist nicht erreichbar. Die in pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts stehende Zuziehung eines Sachverständigen kann unterbleiben, wenn das Gericht selbst über die nötige Sachkunde verfügt und diese Sachkunde in den Urteilsgründen näher darlegt (vgl. BFH-Rechtsprechung).

2. Die unberechtigte Ablehnung eines Beweisantrags verletzt den Anspruch eines Rechtsmittelführers auf rechtliches Gehör. Die sich aus Art. 103 Abs.1 GG ergebende Verpflichtung des Gerichts, die Ausführungen der Prozeßparteien einschließlich der Beweisanträge zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, darf nicht aus Gründen, die außerhalb des Prozeßrechts liegen, verletzt werden (vgl. BVerfG-Beschluß vom 8.11.1978 1 BvR 158/78).

3. Zur Ermittlung der Afa-Bemessungsgrundlage sind die Anschaffungskosten einer Eigentumswohnung nach dem Verhältnis der Verkehrswerte im Zeitpunkt der Anschaffung auf den Bodenanteil und den Gebäudewertanteil aufzuteilen. Für die Schätzung der Verkehrswerte können die für das Sachwertverfahren geltenden Vorschriften der WertV entsprechend herangezogen werden (vgl. BFH-Rechtsprechung).

4. NV: Wird aufgrund einer Betriebssitzverlegung ein anderes FA für die Einkommensbesteuerung eines Steuerpflichtigen gem. §§ 19 Abs.3 Satz 1, 18 Abs.1 Nr.3, 26 Satz 1 AO 1977 örtlich zuständig, bleibt das zuvor zuständige FA nach § 63 Abs.1 Nr.1 FGO passiv legitimiert. Erläßt das nunmehr zuständige FA einen Änderungsbescheid, der auf Antrag des Steuerpflichtigen zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wird, geht die Passivlegitimation auf das "neue" FA über (vgl. BFH-Rechtsprechung).

5. NV: Auch wenn die Versagung des rechtlichen Gehörs ein absoluter Revisionsgrund nach § 119 Nr.3 FGO ist, wird trotzdem allgemein geprüft, ob dieser Verfahrensmangel entscheidungserheblich ist (vgl. BFH-Urteil vom 4.7.1989 IX R 192/85). Eine Zurückverweisung wegen des Verfahrensfehlers wäre nach § 126 Abs.4 FGO nicht vertretbar, wenn sich die Entscheidung im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig erweisen würde.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 63 Abs. 1 Nr. 1, § 76 Abs. 1, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3; VGFGEntlG Art. 3 § 5; EStG § 7 Abs. 4; WertV § 3 Abs. 2 S. 1, § 15; FGO § 126 Abs. 4; WertV §§ 16-20

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden in den Streitjahren (1978 bis 1983) als Eheleute zur Einkommensteuer zusammen veranlagt.

Die Klägerin hatte im Jahre 1975 eine Eigentumswohnung erworben, die die Kläger in den Streitjahren zeitweise selbst nutzten; zeitweise war die Wohnung vermietet.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte zu 1 (das Finanzamt --FA--) setzte bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung aus der Wohnung als Einnahmen die tatsächlich vereinnahmte Miete und für Zeiten der Selbstnutzung einen Mietwert an und zog hiervon Werbungskosten ab, darunter Absetzungen für Abnutzung (AfA) gemäß § 7 Abs.4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von jährlich 1 672 DM. Es ging dabei von einem Wertanteil des Gebäudes von 76,28 v.H. der Anschaffungskosten aus. Die Einsprüche blieben erfolglos.

Mit der Klage begehrten die Kläger, AfA in Höhe von 1 775 DM anzusetzen. Sie beriefen sich dabei auf ein von ihnen eingeholtes Gutachten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) beantragten sie, zur Ermittlung des Gebäudesachwerts der Wohnung ein Sachverständigengutachten einzuholen.

Das FG wies die Klage mit der Begründung ab, das FA habe die Anschaffungskosten nach dem zutreffenden Verhältnis der Verkehrswerte des Grund und Bodens einerseits und des Gebäudes andererseits aufgeteilt. Es lehnte die Einholung des beantragten Sachverständigengutachtens unter Berufung auf Art.3 § 5 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) mit der Begründung ab, die hierfür zu erwartenden Kosten stünden in keinem angemessenen Verhältnis zum geringen Streitwert.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung der §§ 15 bis 20 der Wertermittlungsverordnung (WertV) nebst Anlagen i.V.m. den Wertermittlungs-Richtlinien 1976, des § 6 EStG und der Zweiten Berechnungsverordnung und machen geltend, das FG hätte den beantragten Sachverständigenbeweis erheben müssen. Der Gebäudewertanteil betrage aufgerundet 80 v.H.

Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und bei der Festsetzung der Einkommensteuer für die Streitjahre die Gebäude-AfA in Höhe von 1 775 DM jährlich zu berücksichtigen.

++/ Während des Revisionsverfahrens verlegte der Kläger seinen Betriebssitz von seinem Wohnsitz in den Bezirk des Beklagten und Revisionsbeklagten zu 2, des FA X in Berlin. Das FA erteilte dem Vorsteher des FA X Prozeßvollmacht.

Am 27. Januar 1994 erließ das FA X einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 1983, mit dem es den nach § 32 Abs.8 Satz 1 EStG 1983/1985 i.d.F. des § 54 Abs.1 EStG (Art.1 Nr.18 des Steueränderungsgesetzes 1991) rückwirkend erhöhten Kinderfreibetrag ansetzte und die Einkommensteuerfestsetzung teilweise für vorläufig erklärte. Die Kläger beantragten mit Schriftsatz vom 3. Februar 1994, diesen Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. /++

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--, für 1983 i.V.m. § 127 FGO).

++/ 1. Das FA blieb nach § 63 Abs.1 Nr.1 FGO passiv legitimiert, auch nachdem das FA X aufgrund der Verlegung des Betriebssitzes des Klägers in den Bezirk dieses FA für die Einkommensbesteuerung der Kläger nach § 19 Abs.3 Satz 1 i.V.m. § 18 Abs.1 Nr.3, § 26 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) örtlich zuständig geworden war (Urteile des Bundesfinanzhofs -- BFH-- vom 17. April 1969 V R 5/66, BFHE 96, 89, BStBl II 1969, 593, und vom 25. November 1986 VIII R 200/82, BFH/NV 1987, 281).

Für das Streitjahr 1983 ist die Passivlegitimation aber deshalb auf das FA X übergegangen, weil dieses FA den Änderungsbescheid vom 27. Januar 1994 erlassen hat und dieser Bescheid auf den rechtzeitigen Antrag der Kläger Gegenstand des Verfahrens geworden ist (§§ 68, 121 Satz 1, 123 Satz 2 FGO). Ursprünglicher Verwaltungsakt i.S. des § 63 Abs.1 Nr.1 FGO ist der Änderungsbescheid (BFH-Urteil in BFHE 96, 89, BStBl II 1969, 593; BFH-Beschluß vom 24. März 1993 I R 91/92, BFH/NV 1994, 44).

2. Die Kläger verfolgen in der Sache ihr bisheriges Begehren trotz der Herabsetzung der Einkommensteuer im Änderungsbescheid vom 27. Januar 1994 für das Streitjahr 1983 unverändert weiter. Dieses Begehren ist zulässig (Senatsurteile vom 27. Oktober 1992 IX R 152/89, BFHE 170, 57, BStBl II 1993, 589, und vom 16. Februar 1993 IX R 63/88, BFHE 170, 543, BStBl II 1993, 659). /++

3. Die Vorentscheidung verletzt die Pflicht des FG zur Sachaufklärung (§ 76 Abs.1 Satz 1 FGO i.V.m. Art.3 § 5 Satz 3 Halbsatz 2 VGFGEntlG) sowie den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art.103 Abs.1 des Grundgesetzes --GG--, § 96 Abs.2 FGO).

a) Wie das FG zutreffend angenommen hat, sind zur Ermittlung der AfA-Bemessungsgrundlage die Anschaffungskosten der Eigentumswohnung nach dem Verhältnis der Verkehrswerte im Zeitpunkt der Anschaffung auf den Bodenwert- und den Gebäudewertanteil aufzuteilen (Senatsurteile vom 15. Januar 1985 IX R 81/83, BFHE 143, 61, BStBl II 1985, 252, und vom 21. Juli 1992 IX R 72/90, unter 5., BFHE 169, 317, BStBl II 1993, 486). Für die Schätzung der Verkehrswerte können die für das Sachwertverfahren geltenden Vorschriften der WertV (§ 3 Abs.2 Satz 1, §§ 15 bis 20) entsprechend herangezogen werden (Senatsurteil in BFHE 143, 61, BStBl II 1985, 252).

b) Das FG hätte dem Antrag der Kläger auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Verkehrswertermittlung entsprechen müssen.

aa) Nach § 76 Abs.1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Das Gericht ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs.1 Satz 5 FGO). Das gilt aber nur in dem Sinne, daß das FG von sich aus auch Beweise erheben kann, die von den Parteien nicht angeboten sind (BFH-Urteil vom 22. April 1988 III R 59/83, BFH/NV 1989, 38). Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muß das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will. Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn es auf das Beweismittel für die Entscheidung nicht ankommt oder das Gericht die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt oder das Beweismittel nicht erreichbar ist (BFH-Urteile vom 13. August 1969 II 213/65, BFHE 98, 210, BStBl II 1970, 338; vom 10. Januar 1978 VII R 106/74, BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311, und in BFH/NV 1989, 38).

Diese insbesondere für den Zeugenbeweis geltenden Grundsätze lassen sich allerdings auf den Antrag eines Beteiligten auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht uneingeschränkt übertragen. Die Zuziehung eines Sachverständigen steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (BFH-Urteile vom 14. Dezember 1976 VIII R 76/75, BFHE 121, 410, BStBl II 1977, 474; vom 11. Januar 1977 VII R 4/74, BFHE 121, 152, BStBl II 1977, 310; vom 6. Dezember 1988 VII R 43/86, BFH/NV 1989, 475).

Hat das FG die nötige Sachkunde selbst, braucht es einen Sachverständigen nicht hinzuzuziehen (BFH-Urteile in BFHE 121, 410, BStBl II 1977, 474, und vom 4. März 1993 IV R 33/92, BFH/NV 1993, 739). Die eigene Sachkunde muß das FG in den Urteilsgründen näher darlegen (vgl. im einzelnen BFH-Urteil in BFHE 121, 410, BStBl II 1977, 474).

Das FG darf einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens aber nicht mit der Begründung ablehnen, die Kosten des Gutachtens stünden in keinem angemessenen Verhältnis zum geringen Streitwert. Dies gilt auch, wenn das FG nach Art.3 § 5 VGFGEntlG in der zum Zeitpunkt der Vorentscheidung geltenden Fassung sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen konnte, weil der Streitwert 500 DM nicht überstieg. Nach Art.3 § 5 Satz 3 Halbsatz 2 VGFGEntlG bleibt § 76 FGO unberührt. Das FG war danach auch bei einem Streitwert bis zu 500 DM gehalten, unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel den Sachverhalt so vollständig wie möglich aufzuklären. Nur das Verfahren der Beweiserhebung konnte das FG nach billigem Ermessen bestimmen.

bb) Das FG hat den von den Klägern gestellten Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens danach zu Unrecht abgelehnt. Es hat dies weder mit Unerheblichkeit des Beweisantrags noch mit eigener Sachkunde begründet. Die Berufung auf den geringen Streitwert und die Kosten eines Gutachtens ist ermessensfehlerhaft.

cc) Die unberechtigte Ablehnung des Beweisantrags verletzt die Kläger zugleich in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art.103 Abs.1 GG, § 96 Abs.2, § 119 Nr.3 FGO. Die sich aus Art.103 Abs.1 GG ergebende Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozeßparteien einschließlich der Beweisanträge zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, schließt es aus, diese aus Gründen, die außerhalb des Prozeßrechts liegen, unberücksichtigt zu lassen (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 8. November 1978 1 BvR 158/78, BVerfGE 50, 32, 35 ff.).

Die Vorentscheidung ist wegen Versagung rechtlichen Gehörs aufzuheben. Auch wenn es sich bei diesem Verfahrensfehler um einen absoluten Revisionsgrund nach § 119 Nr.3 FGO handelt, wird aber trotzdem allgemein geprüft, ob der Verfahrensfehler entscheidungserheblich ist (so Urteil des erkennenden Senats vom 4. Juli 1989 IX R 192/85, BFH/NV 1990, 229). Eine Zurückverweisung wegen des Verfahrensfehlers wäre nach § 126 Abs.4 FGO nicht vertretbar, wenn sich die angefochtene Entscheidung im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig erweisen würde (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 119 Anm.14).

Auch unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägung muß die Sache jedoch an das FG zurückgehen. Im Streitfall ist allerdings zu prüfen, ob es auf die von den Klägern angestrebte höhere Gebäude-AfA überhaupt ankommt, weil --möglicherweise zum Nachteil der Kläger-- zu berücksichtigen ist, daß der Nutzungswert der Eigentumswohnung für die Zeit der Selbstnutzung nicht --wie vom FA angenommen-- durch Gegenüberstellung des Rohmietwerts und der anteiligen Werbungskosten nach § 21 Abs.2 EStG, sondern im Wege der Pauschalierung des Nutzungswerts nach § 21a EStG zu ermitteln ist (vgl. hierzu im einzelnen Urteil des erkennenden Senats vom 25. Juni 1991 IX R 7/85, BFHE 165, 67, BStBl II 1992, 24). Aber auch hierzu ist den Klägern bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden; auch fehlen insoweit tatsächliche Feststellungen des FG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 65166

BFH/NV 1994, 64

BStBl II 1994, 660

BFHE 174, 301

BFHE 1995, 301

BB 1994, 1491

BB 1994, 1491 (L)

DB 1994, 1708 (LT)

DStZ 1995, 60-61 (KT)

HFR 1994, 603 (KT)

StE 1994, 433 (K)

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