Entscheidungsstichwort (Thema)

Revisionsschrift: Angabe des Revisionsbeklagten; Haftung wegen Steuerhinterziehung

 

Leitsatz (NV)

1. Die Revisionsschrift muß die Angaben enthalten, für und gegen wen die Revision eingelegt wird. Eine Berichtigung dieser Angaben nach Ablauf der Revisionsfrist ist nicht zulässig. Es genügt aber, daß die erforderlichen Angaben innerhalb dieser Frist aus den Akten des FG festgestellt werden können.

2. Im Falle der Haftung wegen Steuerhinterziehung können sich die Finanzbehörden und Finanzgerichte i. d. R. die tatsächlichen Feststellungen, Beweiswürdigungen und rechtlichen Beurteilungen des Strafgerichts zu eigen machen.

3. Bei der Inanspruchnahme eines Steuerhinterziehers als Haftungsschuldner bedarf es regelmäßig keiner Begründung der Ermessensentscheidung.

 

Normenkette

FGO § 120 Abs. 2 S. 1; AO a.F. §§ 112, 118, 392 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war bis April 1975 bei einer GmbH als Buchhalterin beschäftigt. Zu ihren Aufgaben gehörte es u. a., die Löhne der Arbeitnehmer zu berechnen sowie die Lohnsteuerabzugsbeträge einzubehalten, anzumelden und an das Finanzamt (FA) abzuführen. Die GmbH gab ab Juli 1973 keine Lohnsteueranmeldungen mehr ab und führte auch keine Steuerabzugsbeträge mehr an das FA ab. Lohnsteueranmeldungen für die Monate Oktober 1973 bis März 1975 über Steuerabzugsbeträge von insgesamt 62 063,14 DM wurden später - am 11. April 1975 - im Zuge einer Selbstanzeige vom alleinigen Gesellschafter und Geschäftsführer der GmbH, dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, dem FA nachgereicht.

Die GmbH wurde im September 1975 liquidiert. Der Sohn des Gesellschafter-Geschäftsführers der GmbH hatte zunächst die Absicht, die Firma zu übernehmen. Hierzu ist es jedoch nach den Feststellungen im Urteil des Finanzgerichts (FG) nicht gekommen. Die nachgemeldeten Lohnsteuerbeträge wurden nicht bezahlt.Das FA nahm zunächst den Gesellschafter-Geschäftsführer der GmbH als Haftungsschuldner gemäß § 109 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (A0) wegen der rückständigen Steuerabzugsbeträge in Anspruch. Dessen Einspruch und Klage blieben erfolglos. Die Vollstreckung des Haftungsbescheids erwies sich als nicht realisierbar.

In einem Strafverfahren gegen den Gesellschafter-Geschäftsführer hatte die Klägerin als Zeugin ausgesagt, sie trage die alleinige Schuld an der Nichtabgabe der Lohnsteueranmeldungen. Sie habe die Anmeldung der Lohnsteuern deshalb unterlassen, weil ab Anfang 1973 die Verbindlichkeiten der GmbH erheblich angestiegen seien und die Liquiditätslage der Gesellschaft außerordentlich angespannt gewesen sei. Sie habe gehofft, die anwachsenden Rückstände mit Hilfe der eingehenden Außenstände finanzieren zu können. Das habe sich jedoch nicht verwirklichen lassen. Schließlich sei sie in Panik geraten und habe ,,den Kopf in den Sand gesteckt". Den Gesellschafter-Geschäftsführer habe sie erst im Frühjahr 1975 von der Nichtabgabe der Lohnsteueranmeldungen informiert. Da die Firma sein Lebenswerk gewesen sei, habe sie es nicht fertig gebracht, ihn vorher zu unterrichten.

Die Klägerin wurde wegen fortgesetzter Lohnsteuerverkürzung verurteilt. Das FA erließ daraufhin am 2. Juli 1981 einen Haftungsbescheid gegen die Klägerin als Verfügungsberechtigte der GmbH über die rückständigen Steuerabzugsbeträge für den Zeitraum Juli 1973 bis März 1975. In der Einspruchsentscheidung wurde anknüpfend an die Feststellungen des Strafgerichts die Haftung auf Steuerhinterziehung (§ 112 AO) gestützt, weil die Klägerin zugunsten der GmbH fortgesetzt Lohnsteuer (Gesamtbetrag 71 503,42 DM) verkürzt habe.

Die Klage der Klägerin führte unter Aufhebung der Haftung für den Monat März 1975 sowie der Korrektur der Haftungssumme um pauschal versteuerte Aushilfslöhne und um die auf das Dezembergehalt 1975 der Klägerin entfallende Lohnsteuer zu einer Herabsetzung des Haftungsbetrags auf insgesamt 68 811,15 DM (Lohnsteuer 61 243,04 DM, ev. Kirchensteuer 3 129,78 DM, rk. Kirchensteuer 2 828,39 DM, Ergänzungsabgabe 950,90 DM, Stabilitätszuschlag 659,04 DM). Das FG führte aus:

Das FA habe die Haftungsgrundlage in der Einspruchsentscheidung berichtigen dürfen. Da es unter Berufung auf die Feststellungen im Strafurteil die Haftung auf § 112 AO gestützt habe, habe es seine Ermessensausübung nicht zu begründen brauchen. Zwar bestehe für das FG keine förmliche Bindung an die Feststellungen des Strafgerichts. Das Gericht halte jedoch die Tatsachenfeststellungen und Würdigungen des Strafurteils für zutreffend. Einwendungen, die über das hinausgingen, was im Strafverfahren bereits geltend gemacht worden sei, seien nicht erhoben worden. Insbesondere habe das FG berücksichtigen dürfen, daß die Klägerin in dem Strafverfahren ein glaubhaftes Geständnis abgelegt habe. Anhaltspunkte dafür, daß das Strafverfahren in bezug auf den hinterzogenen Betrag zu einem falschen Ergebnis geführt habe, lägen nicht vor. Das FG habe demnach den auch im Strafverfahren festgestellten Lohnsteuerbetrag von 61 243,04 DM als hinterzogen im Sinne von § 144 Abs. 1 AO ansehen können, so daß eine Verjährungsfrist von zehn Jahren zur Anwendung komme, die - unabhängig von einer evtl. Hemmung der Verjährung durch die Außenprüfung - im Zeitpunkt des Ergehens des Haftungsbescheids noch nicht abgelaufen gewesen sei.

In ihrer Revisionsschrift gegen das mit dem zutreffenden Aktenzeichen bezeichnete Urteil des FG hat die Klägerin die Oberfinanzanzdirektion (OFD) als Beklagten benannt. In der nach Ablauf der Revisionsfrist eingegangenen Revisionsbegründung brachte sie die Berichtigung an, daß Beklagter und Revisionsbeklagter entsprechend dem Rubrum des angefochtenen Urteils nicht die OFD, sondern das beklagte FA sei.

Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin vor, die Feststellung im Tatbestand des angefochtenen Urteils, daß es zur Übernahme der Firma durch den Sohn des Gesellschafter-Geschäftsführers nicht gekommen sei, sei falsch. Dem FG sei vorgetragen und nachgewiesen worden, daß im Jahre 1975 alle wesentlichen Bestandteile des Unternehmens auf den Sohn mit der Rechtsfolge übertragen worden seien, daß dieser nach § 116 AO (§ 75 der Abgabenordnung - AO 1977 -) für Betriebssteuern und Steuerabzugsbeträge hafte. Angesichts dieser fehlerhaften Sachverhaltsfeststellung werde eine Verletzung des § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gerügt.

Das FA sei sowohl von der Klägerin als auch von deren Prozeßbevollmächtigten wiederholt und nachdrücklich darauf hingewiesen worden, daß auch der Sohn des Gesellschafter-Geschäftsführers als Haftungsschuldner in Betracht komme. Indem das FA nur sie (die Klägerin) und den Gesellschafter-Geschäftsführer der GmbH, nicht aber auch den Betriebsübernehmer in Anspruch genommen habe, habe es das ihm eingeräumte Auswahlermessen mißbraucht; es habe damit die Grenzen seines Ermessens überschritten.

Bei seiner Auswahl hätte das FA berücksichtigen müssen, daß der Sohn des Gesellschafter-Geschäftsführers zunächst für diesen und damit auch für die Klägerin Selbstanzeige erstattet hätte. Er habe diese jedoch nicht zur strafrechtlichen Wirksamkeit, d. h. Straflosigkeit kommen lassen, weil er die Zahlung der betreffenden Steuerbeträge, von denen er gewußt habe, daß sie weder von der Klägerin noch vom Gesellschafter-Geschäftsführer jemals aufzubringen seien, vorsätzlich unterlassen habe. Bei dieser Sach- und Rechtslage habe das FA sein Ermessen nur in der Weise ausüben dürfen, daß es den Sohn als haftenden Betriebsübernehmer in Anspruch nahm. Ein Anlaß hierzu habe umso mehr bestanden, als sich der Sohn im Rahmen der Übernahmeverhandlungen schriftlich gegenüber seinem Vater zur Zahlung der gesamten Lohnsteuerschuld verpflichtet hätte. Daß das FG dieses Verhalten des FA bei der Ausübung des Ermessens nicht überprüft und rechtlich gewürdigt habe, stelle eine Verletzung der §§ 76, 102 FGO dar.

Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Haftungsbescheid sowie die Einspruchsentscheidung des FA aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Revision ist zulässig.

a) Nach § 120 Abs. 2 Satz 1 FGO muß die Revision das angefochtene Urteil bezeichnen. Zu dieser Bezeichnung, die nicht bis zum Ablauf der Begründungsfrist, sondern nur innerhalb der Revisionsfrist nachgeholt werden kann, gehört die Angabe des Gerichts, das die Entscheidung gefällt hat, des Urteilsdatums, des Aktenzeichens und der Sache, in der das Urteil ergangen ist. Das Fehlen oder die falsche Bezeichnung einzelner Angaben ist unschädlich, wenn das FG die erforderlichen Angaben innerhalb der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels aus sonstigen Umständen, insbesondere aus seinen Akten, entnehmen kann oder wenn alle sonstigen Angaben vollständig sind und die Gefahr der Verwechslung ausgeschlossen ist (vgl. Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., 1987, § 120 Rz. 5, m. w. N.).

Die Revisionsschrift der Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen. Sie bezeichnet - in der Anschrift - das FG, ferner das angefochtene Urteil mit dem Aktenzeichen und seinem Zustellungsdatum, und sie gibt die Klägerin und ihren Prozeßbevollmächtigten im Klageverfahren (unter Angabe der Anschriften) zutreffend an. Damit ist unter Ausschluß einer Verwechslungsgefahr die angefochtene Entscheidung mit hinreichender Deutlichkeit bezeichnet. Die Revision ist nicht deshalb unzulässig, weil als Beklagter - unzutreffend - die OFD anstatt des FA benannt worden ist und diese fehlerhafte Angabe erst nach Ablauf der Revisionsfrist in der Revisionsbegründung berichtigt worden ist.

b) Nach allgemeiner Ansicht folgt aus der Pflicht zur Bezeichnung des angefochtenen Urteils, daß die Revisionsschrift auch die Beteiligten angeben muß. In ihr muß hinreichend und richtig zum Ausdruck kommen, für wen und gegen wen die Revision eingelegt wird (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 30. April 1980 VII R 94/74, BFHE 130, 480, BStBl II 1980, 588; Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 18. Dezember 1985 VIII ZR 278/85, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1987, 369; Ruban in Gräber, a.a.O., § 120 Rz. 6; Tipke / Kurse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 120 FGO Tz. 6). Im Streitfall ist ein falscher Revisionsbeklagter in der Revisionsschrift benannt worden (OFD anstatt FA). Der Richtigstellung dieses Verfahrensbeteiligten in der Revisionsbegründung kann, wie das FA zu Recht ausführt, keine Heilung dieses Mangels beigemessen werden, da sie erst nach Ablauf der Revisionsfrist (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) erfolgt ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24. November 1976 I R 114/75, BFHE 120, 341, BStBl II 1977, 163; Ruban in Gräber, a.a.O., § 120 Rz. 5). Nach der Rechtsprechung genügt es aber, wenn die für die Zulässigkeit des Rechtsmittels erforderlichen Angaben - hier die Bezeichnung des richtigen Revisionsbeklagten - noch innerhalb der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels aus sonstigen Umständen, insbesondere aus den Akten der Vorinstanz, festgestellt werden können. Das ist im finanzgerichtlichen Verfahren deshalb regelmäßig - und so auch hier - der Fall, weil die Revision beim FG einzulegen ist (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) und diesem die Akten vorliegen, aus denen sich die erforderlichen Angaben ergeben. Das Gesetz verlangt nicht, daß auch dem BFH bereits innerhalb der Revisionsfrist alle maßgeblichen Angaben bekannt sind (vgl. Urteil in BFHE 130, 480, BStBl II 1980, 588, 590, m. w. N.; BFH-Urteil vom 1. Oktober 1980 II R 37/78, BFHE 131, 527, BStBl II 1981, 105, 106; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 120 FGO Tz. 6; Ruban in Gräber, a.a.O., § 120 Rz. 6).

Die Revisionsschrift der Klägerin entspricht demnach trotz der Angabe des falschen Beklagten den an die Zulässigkeit des Rechtsmittels zu stellenden Anforderungen. Denn das FG konnte nach Einlegung der Revision noch innerhalb der Revisionsfrist den Gerichtsakten zweifelsfrei entnehmen, daß sich die Revision gegen das FA, den Beklagten im Klageverfahren, richten sollte und nicht gegen die OFD, die mit dem angefochtenen Haftungsbescheid nichts zu tun hatte. Es war somit erkennbar, daß die Bezeichnung der OFD als Beklagte auf einem Versehen der Klägerin bzw. ihres Prozeßbevollmächtigten beruhte und daß damit nicht - wie das FA meint - eine im Revisionsverfahren gemäß § 123 FGO unzulässige Klageänderung in der Form des Beteiligtenwechsels auf der Beklagtenseite (vgl. dazu von Groll in Gräber, a.a.O., § 67 Rz. 8) vorgenommen werden sollte. Das FA beruft sich insoweit zu Unrecht auf das Urteil des Senats vom 26. Februar 1980 VII R 60/78 (BFHE 130, 12, BStBl II 1980, 331). Die Entscheidung findet auf den Streitfall keine Anwendung, weil sie den Fall des Beklagtenwechsels im Klageverfahren betrifft, in dem dem FG der - abweichend von der Benennung in der Klageschrift - richtige Beklagte aus sonstigen Umständen innerhalb der Klagefrist nicht erkennbar war.

2. Die Revision ist aber nicht begründet.

Das FA hat die Klägerin zu Recht als Steuerhinterzieherin für verkürzte Steuerabzugsbeträge in Anspruch genommen. Das Urteil des FG ist, soweit es den Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung bestätigt, nicht zu beanstanden.

a) Wer eine Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei begeht, haftet nach § 112 AO für den Betrag, in dessen Höhe Steuereinnahmen verkürzt oder Steuervergünstigungen zu Unrecht gewährt oder belassen werden, auch dann, wenn er nicht Steuerschuldner ist. Diese Haftungsvorschrift (jetzt § 71 AO 1977) findet auf den Streitfall noch Anwendung, da der haftungsbegründende Tatbestand vor dem 1. Januar 1977 verwirklicht worden ist (Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -).

Der Haftungsschuldner muß den objektiven und subjektiven Tatbestand der einschlägigen Straftatbestände erfüllt haben. Die hier maßgebliche Steuerhinterziehung kann nach § 392 Abs. 1 AO nicht nur zum eigenen Vorteil, sondern auch zum Vorteil eines anderen begangen werden. Als Haftungsschuldner nach § 112 AO kommen somit auch Angestellte des Steuerschuldners oder des primären Haftungsschuldners (hier: Arbeitgeber) - wie die Klägerin - in Betracht, auch wenn sie nicht zu den in den §§ 103 bis 108 AO (§§ 34, 35 AO 1977) bezeichneten Personen gehören (vgl. Tipke / Kruse, Reichsabgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 112 AO Tz. 1).

Ob die Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung vorliegen, ist für die Feststellung des Haftungstatbestandes von den Finanzbehörden und FG nach den Vorschriften der AO und der FGO zu prüfen, denn es handelt sich insoweit lediglich um eine strafrechtliche Vorfrage (vgl. Beschluß des Großen Senats des BFH vom 5. März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570, 573). Diese sind dabei an die tatsächlichen Feststellungen und an die Rechtsauffassung im Urteil eines Strafgerichts grundsätzlich nicht gebunden (vgl. Tipke / Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 70 AO 1977 Tz. 6; Halaczinsky in Koch, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 71 Rz. 5; Kühn / Kutter / Hofmann, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 71 AO 1977 Anm. 2). Hat aber, wie im Streitfall, das Strafgericht über die Frage der Steuerhinterziehung bereits entschieden, so sind die Steuerbehörden und Steuergerichte nicht gehindert, sich die tatsächlichen Feststellungen, Beweiswürdigungen und rechtlichen Beurteilungen des Strafgerichts zu eigen zu machen, wenn und soweit sie zu der Überzeugung gelangen, daß diese zutreffend sind. Das gilt jedenfalls dann, wenn substantiierte Einwendungen gegen die Feststellungen im Strafurteil nicht erhoben werden (vgl. BFH-Urteile vom 10. Oktober 1972 VII R 117/69, BFHE 107, 168, BStBl II 1973, 68, 71; vom 13. Juni 1973 VII R 58/71, BFHE 109, 306, BStBl II 1973, 666; vom 7. November 1973 I R 92/72, BFHE 111, 7, BStBl II 1974, 125, 126, und vom 10. Januar 1978 VII R 106/74, BFHE 124, 305, BStBl II 1978, 311; ferner ebenso die vorstehend zitierte Kommentarliteratur.

Die Klägerin ist demnach zu Recht als Haftungsschuldnerin nach § 112 AO in Anspruch genommen worden. Das FA - in seiner Einspruchsentscheidung - und das FG waren befugt, den Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 392 AO) auf die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Würdigungen im Strafurteil zu stützen, durch das die Klägerin rechtskräftig wegen fortgesetzter Lohnsteuerverkürzung unter Hinweis auf § 392 AO zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Im Streitfall lag - wie das FG ausgeführt hat - die Übernahme der vom Strafgericht getroffenen tatsächlichen und rechtlichen Würdigung insbesondere deshalb nahe, weil diese auf dem Geständnis der Klägerin beruht. Anhaltspunkte dafür, daß das Strafverfahren zu einem unrichtigen Ergebnis geführt hat, liegen nicht vor. Das Urteil des FG stimmt hinsichtlich der Höhe der insgesamt hinterzogenen Lohnsteuer (61 243,04 DM) mit dem im Strafurteil festgestellten Betrag überein. Die Klägerin hat auch mit der Revision keine Einwendungen gegen die Verwirklichung des Haftungstatbestands erhoben.

b) Bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners nach § 112 AO handelt es sich um eine nach § 118 AO zu treffende Ermessensentscheidung, die nach § 102 FGO daraufhin zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (vgl. BFH-Urteile vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und vom 3. Februar 1981 VII R 86 /78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Wegen der Befugnis und der Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen - hier die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners, insbesondere in den Fällen des Auswahlermessens - aus der Entscheidung erkennbar sein (BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Die Einwendungen der Revision, das FA habe das im Streitfall bestehende Auswahlermessen mißbraucht, weil es nur die Klägerin, nicht aber auch den als Betriebsübernehmer nach § 116 AO für die Lohnsteuer ebenfalls haftenden Sohn des ehemaligen Gesellschafter-Geschäftsführers der GmbH in Anspruch genommen habe, greifen nicht durch.

Nach der Rechtsprechung des Senats ist es unter ermessensrechtlichen Gesichtspunkten regelmäßig gerechtfertigt, wenn die Finanzbehörde einen Haftenden in Anspruch nimmt, der vorsätzlich Steuern hinterzogen oder Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet hat; im Hinblick auf die Schwere seines Verschuldens würde das FA ermessensfehlerhaft handeln, wenn es ihn von der Haftung freistellt (BFH-Urteile vom 24. Oktober 1979 VII R 7/77, BFHE 129, 13, BStBl II 1980, 58, 59; vom 12. April 1983 VII R 3/80, HFR 1983, 397, und vom 5. Juni 1985 VII R 57/82, BFHE 144, 290, 293, BStBl II 1985, 688; vgl. auch das Urteil des V. Senats des BFH in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, zur Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nach § 109 AO bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Steuerverkürzung). Nach den auf dem Strafurteil beruhenden Feststellungen des FG hat die Klägerin zum Vorteil der GmbH bzw. ihres Alleingeschäftsführers vorsätzlich bewirkt, daß Steuereinnahmen verkürzt wurden (§ 392 Abs. 1 AO). Es liegt demnach - entgegen der Auffassung der Revision - kein Ermessensmißbrauch vor, wenn das FA die Klägerin - unabhängig von einer etwaigen Mithaftung des Sohnes des Gesellschafter-Geschäftsführers nach § 116 AO - als Steuerhinterzieherin und Haftungsschuldnerin in Anspruch genommen hat.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich ferner, daß der angefochtene Haftungsbescheid nicht deshalb rechtsfehlerhaft ist, weil das FA in ihm und in der Einspruchsentscheidung seine Ermessensentscheidung nicht begründet hat. Dieser Ermessensentscheidung ging die Rechtsentscheidung des FA darüber voraus, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 112 i. V. m. § 392 Abs. 1 AO erfüllt seien. Durch die Rechtsentscheidung über die fortgesetzte vorsätzliche Lohnsteuerverkürzung, wie sie aus der Einspruchsentscheidung ersichtlich ist, war die Ermessensentscheidung in der Weise vorgeprägt, daß es keiner besonderen Begründung der Ermessensbetätigung in der Einspruchsentscheidung mehr bedurfte (vgl. die im vorstehenden Absatz zitierte BFH-Rechtsprechung). Von diesen Rechtsgrundsätzen ist auch die Vorentscheidung ausgegangen.

Da im Hinblick auf das mit der Steuerhinterziehung verbundene schwere Verschulden der Klägerin deren Heranziehung als Haftungsschuldnerin jedenfalls gerechtfertigt war, kam es auch unter dem Gesichtspunkt des Auswahlermessens auf eine etwaige Mithaftung des Sohnes des Gesellschafter-Geschäftsführers der GmbH nach § 116 AO nicht an. Die Verfahrensrüge der Klägerin, die Feststellung im Tatbestand des angefochtenen Urteils, daß es zur Übernahme der Firma durch den Sohn nicht gekommen sei, beruhe auf einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 FGO), greift somit nicht durch.

Im übrigen wäre der Senat nach § 118 Abs. 2 FGO an die tatsächliche Feststellung der Vorinstanz deshalb gebunden, weil der Verfahrensmangel nicht in der gebotenen Form (§ 120 Abs. 2 Satz 2 FGO) gerügt worden ist. Hierzu hätte die Klägerin unter genauer Bezeichnung des Schriftsatzes, in dem der Beweisantritt erfolgt sein soll, und des Beweisthemas entweder angeben müssen, welche Beweisantritte das FG übergangen hat, oder wo Tatsachen vorgetragen worden sind, denen das Gericht auch ohne Beweisantritt hätte nachgehen müssen (vgl. Ruban in Gräber, a.a.O., § 120 Rz. 40, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Die Klägerin hat aber nicht dargetan, daß sie im finanzgerichtlichen Verfahren Beweisanträge gestellt habe. Ihre pauschale Behauptung in der Revisionsbegründung, dem FG sei ein Sachverhalt vorgetragen und nachgewiesen worden, aus dem sich ergebe, daß im Jahre 1975 alle wesentlichen Bestandteile des Unternehmens auf den Sohn des Gesellschafter-Geschäftsführers der GmbH übertragen worden seien, genügt nicht den Anforderungen, die an den Tatsachenvortrag zur Begründung einer Rüge wegen mangelnder Sachaufklärung gestellt werden (vgl. BFH-Urteil vom 3. November 1982 I R 39/80, BFHE 137, 183, BStBl II 1983, 182, 183).

 

Fundstellen

Haufe-Index 415542

BFH/NV 1988, 692

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