Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Wird während des Revisionsverfahrens in der gleichen Rechtssache Verfassungsbeschwerde zum BVerfG eingelegt, so kann nicht Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO begehrt werden, da dessen Grundvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Der I. Senat schließt sich der Auffassung des IV. Senats des BFH in den Entscheidungen IV 324/65 vom 13. Januar 1966 (BFH 84, 548, BStBl III 1966, 199) und IV 264/65 vom 29. Juli 1966 (BFH 86, 671, BStBl III 1966, 629) an.

 

Normenkette

FGO § 74

 

Tatbestand

Nach einer bei der Revisionsklägerin (Steuerpflichtigen - Stpfl. -), einer GmbH, im Jahre 1956 durchgeführten Betriebsprüfung erhöhte der Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) durch Sammelberichtigungsbescheid den Gewerbesteuermeßbetrag für die Erhebungszeiträume 1952 bis 1954.

Der am 8. November 1956 der Stpfl. durch einfachen Brief übersandte Bescheid enthielt in der Rechtsmittelbelehrung nicht den in § 17 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vorgeschriebenen Zusatz "... es sei denn, daß das zuzusendende Schriftstück nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist." Die Stpfl. legte mit Schreiben vom 29. Juli 1962 gegen den Bescheid Einspruch ein. Wegen der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung sei die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt worden und der Bescheid nicht rechtskräftig geworden. Der Sache nach wollte die Stpfl. erreichen, daß die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nach dem Ergehen des Sammelberichtigungsbescheids für verfassungswidrig erklärte Vorschrift des § 8 Ziff. 6 GewStG über die Hinzurechnung von Gehältern der geschäftsführenden Gesellschafter der GmbH bei der Gewerbesteuer 1952 bis 1954 nicht mehr angewendet würde.

FA und Finanzgericht (FG) entsprachen nicht dem Antrag der Stpfl. Das FG begründete seine Entscheidung mit der eingetretenen Verwirkung, weil die Stpfl. erst mehr als 5 1/2 Jahre nach Bekanntgabe des Bescheides tätig geworden sei.

Mit der als Revision zu behandelnden Rechtsbeschwerde (§ 184 Abs. 2 Ziff. 1 FGO) beantragt der als gesetzlicher Vertreter auftretende Konkursverwalter der Stpfl., das angefochtene Urteil ersatzlos aufzuheben und die Entscheidung bis zur Erledigung der in derselben Sache beim BVerfG erhobenen Verfassungsbeschwerde auszusetzen. Seinen Antrag begründet der Konkursverwalter wie folgt. Die auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) gestützte "Verwirkung des Rechtsmittelrechts" sei eine dem eindeutigen Wortlaut des § 246 Abs. 3 AO a. F. widersprechende Ausweitung dieser Vorschrift durch unzulässiges Richterrecht zuungunsten des Steuerpflichtigen (Urteil des BVerfG 1 BvR 232/60 vom 24. Januar 1962, BStBl I 1962, 506 (509)). Aus prozeßökonomischen Gründen und wegen der ausschlaggebenden Bedeutung der Entscheidung des BVerfG für die anstehende Rechtsfrage werde die Aussetzung des Verfahrens vor dem BFH für schlüssig erachtet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Dem Antrag auf Aussetzung des Verfahrens kann nicht entsprochen werden.

... 2) Der Antrag des Konkursverwalters, die Entscheidung des Rechtsstreits auszusetzen, bis das BVerfG über die gleichzeitig von der Stpfl. erhobene Verfassungsbeschwerde gemäß §§ 90 ff. des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) entschieden hat, könnte nur auf § 74 FGO gestützt werden. Diese Vorschrift setzt wie der entsprechende § 94 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) voraus, daß die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Demnach müßte die Entscheidung des BVerfG im vorliegenden Fall für den BFH vorgreiflich (präjudiziell) sein. Das ist jedoch nicht der Fall. Der IV. Senat des BFH hat in den Entscheidungen IV 324/65 vom 13. Januar 1966 (BFH 84, 548, BStBl III 1966, 199) und IV 264/65 vom 29. Juli 1966 (BFH 86, 671, BStBl III 1966, 629) ausgesprochen, daß die Steuergerichte Anträge von Verfahrensbeteiligten, den Rechtsstreit auszusetzen, bis das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde wegen der gleichen Rechtsfrage entschieden hat, grundsätzlich nicht zu entsprechen brauchen.

Der IV. Senat des BFH hat es in dem Urteil IV 264/65, a. a. O., dahingestellt sein lassen, ob überhaupt § 74 FGO anzuwenden ist, wenn es sich um die Vorfrage der Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit Verfassungsnormen handelt und diese Vorfrage den Gegenstand eines konkreten Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG bildet, da das Gericht selbst bei Anwendbarkeit des § 74 FGO auf solche Fälle jedenfalls nicht zur Aussetzung des Verfahrens verpflichtet ist.

Es handelt sich im Streitfall nicht um eine konkrete Normenkontrolle im Sinne des Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und der §§ 13 Nr. 11 und 80 ff. BVerfGG, die voraussetzt, daß das erkennende Gericht selbst das Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Zum Gegenstand des gegenwärtigen Steuerrechtsstreits ist auch beim BVerfG kein abstraktes Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG anhängig, bei dessen Vorliegen der BFH im Beschluß II S 2/66 vom 23. Februar 1966 (BFH 86, 248, BStBl III 1966, 402) die Aussetzung des Revisionsverfahrens für geboten gehalten hat. Vielmehr handelt es sich um einen Fall der jedermann nach Erschöpfung des Rechtswegs zustehenden Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 15, 90 ff. BVerfGG wegen der behaupteten Verletzung von Grundrechten. Aus der regelmäßig geforderten Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) ergibt sich klar die Aufeinanderfolge der dem Steuerpflichtigen zustehenden Möglichkeiten des Rechtsschutzes. Aber auch abgesehen von dem so geregelten Verfahrensablauf sind die Grundvoraussetzungen des § 74 FGO nicht erfüllt. Wird während des Revisionsverfahrens in der gleichen Rechtssache Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben, so wird dadurch die Entscheidung des BFH nicht vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängig gemacht, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Der Senat gelangt in übereinstimmung mit den a. a. O. angeführten Entscheidungen des IV. Senats zu dem Ergebnis, daß bei Verfassungsbeschwerden der Beteiligten, die wegen der gleichen Rechtsfragen eingelegt worden sind, die Vorschrift des § 74 FGO überhaupt nicht anwendbar ist. Demnach entfällt auch die nur bei Bejahung ihrer Anwendbarkeit vorzunehmende Prüfung, ob im Streitfall die sachlichen Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach § 74 FGO erfüllt sind.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412343

BStBl III 1967, 120

BFHE 1967, 317

BFHE 87, 317

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