Leitsatz (amtlich)

1. Ist wegen der Frage, ob die Verwaltung zu Recht, die Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheids abgelehnt hat, ein Revisionsverfahren anhängig und stellt der Steuerpflichtige in diesem Stadium des Verfahrens einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei Gericht, so ist für diesen Antrag der BFH als Gericht der Hauptsache zuständig.

2. Der Antrag nach § 70 Abs. 1 FGO, den Rechtsstreit an das sachlich zuständige Gericht zu verweisen, kann auch noch in zweiter Instanz beim BFH gestellt werden. Ist der BFH das Gericht, an das zu verweisen ist, so führt der Verweisungsantrag dazu, daß die Sache in das - nunmehr erstinstanzliche - Verfahren beim BFH überführt wird; eines besonderen Verweisungsbeschlusses bedarf es dafür nicht.

2. Es ist zweifelhaft, ob ein Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung zulässig ist. Jedenfalls kann eine entsprechende Aussetzung nur als äußerster Notbehelf zur Abwendung eines dem Steuerpflichtigen sonst drohenden schwerwiegenden und durch überwiegende öffentliche Interessen nicht gerechtfertigten Schadens in Frage kommen.

 

Normenkette

FGO §§ 69-70

 

Tatbestand

Durch Steuerhaftungsbescheid vom 10. Dezember 1975 nahm der Antragsgegner und Beschwerdegegner (HZA) die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) als Haftende für die von der Firma X geschuldete Mineralölsteuer in Anspruch. Gegen diesen Steuerhaftungsbescheid legte die Antragstellerin am 17. Dezember 1975 Einspruch ein, über den bisher noch nicht entschieden worden ist. Gleichzeitig beantragte die Antragstellerin, die Vollziehung des Bescheids bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Einspruch auszusetzen. Mit Schreiben vom 18. Dezember 1975 teilte das HZA der Antragstellerin mit: "Ich setze die Vollziehung der oben genannten Steuerhaftungsbescheide vorläufig aus, bis über Ihre Anträge auf Aussetzung der Vollziehung endgültig entschieden ist." Mit Schreiben vom 5. Januar 1976 lehnte des HZA den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Steuerhaftungsbescheides vom 10. Dezember 1975 ab. Die hiergegen eingelegte Beschwerde hatte keinen Erfolg. Gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung und die Beschwerdeentscheidung erhob die Antragstellerin am 7. Mai 1976 Klage.

Mit Urteil vom 27. Juli 1976 wies das FG die Klage als unbegründet ab. Dagegen legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 16. September 1976 - eingegangen beim FG am 17. September 1976 - Revision ein, über die noch nicht entschieden ist (Aktenzeichen des BFH VII R 90/76).

Mit Schriftsatz vom 16. September 1976 - eingegangen beim FG am 17. September 1976 - beantragte die Antragstellerin, "die Vollziehung des Steuerhaftungsbescheides vom 10. Dezember 1975 ... bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Aussetzungsantrag der Antragstellerin vom 16. Dezember 1975 ... auszusetzen".

Das FG lehnte mit der angefochtenen Entscheidung den Antrag ab.

Das FG hat die Beschwerde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Streitsache zugelassen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung des Antrags.

1. Die Beschwerde scheitert nicht schon daran, daß das FG für die Entscheidung über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht zuständig war.

Die Frage der Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Steuerhaftungsbescheids ist bereits Gegenstand eines Urteilsverfahrens. Die Antragstellerin hat gegen die Ablehnung des Antrags nach § 69 Abs. 2 FGO durch die Verwaltung Klage und gegen das die Klage abweisende Urteil des FG Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden worden ist. Daneben hat sie - gleichzeitig mit der Einlegung der Revision beim BFH - beim FG nach § 69 Abs. 3 FGO die einstweilige Aussetzung der Vollziehung des Bescheides bis zur Entscheidung des BFH über die Revision beantragt.

Gericht der Hauptsache ist also im vorliegenden Fall der BFH. Zwar hat dieser nicht über die Rechtmäßigkeit des Steuerhaftungsbescheids, dessen Vollziehung ausgesetzt werden soll, zu entscheiden, sondern lediglich über die Rechtmäßigkeit der die Aussetzung der Vollziehung ablehnenden Entscheidung der Verwaltung. Der Antrag der Antragstellerin erstrebt im vorliegenden Verfahren jedoch lediglich einstweiligen Rechtsschutz bis zur Entscheidung durch den BFH im genannten Verfahren. Im vorliegenden Verfahren liegt also ein Aussetzungsverfahren gleichsam zweiten Grades vor, zu dem als Hauptsache nur das zugehörige Aussetzungsverfahren ersten Grades gehören kann (vgl. Entscheidung des erkennenden Senats vom 25. Januar 1966 VII S 2/66, BFHE 84, 479, BStBl III 1966, 174, in der sich der Senat in einem vergleichbaren Fall für zuständig gehalten hat). Diese Hauptsache ist aber im vorliegenden Fall aufgrund der gleichzeitig mit dem Antrag eingelegten Revision beim BFH anhängig gemacht worden, so daß auch der Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung bei diesem Gericht hätte gestellt werden müssen. Das FG war demnach für die Entscheidung über den Antrag nicht zuständig. Seine Entscheidung war daher rechtswidrig und somit aufzuheben.

2. Hält ein Gericht sich für örtlich oder sachlich unzuständig, so hat es sich, wenn das zuständige Gericht der Finanzgerichtsbarkeit bestimmt werden kann, auf Antrag des Klägers durch Beschluß für unzuständig zu erklären und den Rechtsstreit an das zuständige Gericht zu verweisen (§ 70 Abs. 1 FGO, der im Beschwerdeverfahren entsprechend anwendbar ist). Es kann hier dahinstehen, ob die Zuständigkeitsregelung des § 69 Abs. 3 FGO als eine Frage der instanziellen Zuständigkeit oder als eine solche der sachlichen Zuständigkeit im engeren Sinne anzusehen ist. Denn jedenfalls liegt der Regelung des § 70 Abs. 1 FGO der Gedanke der Prozeßökonomie zugrunde, so daß es ihrem Sinn und Zweck entspricht, den Begriff "sachliche" Zuständigkeit nicht eng auszulegen (vgl. auch für die entsprechende Frage des gleichlautenden § 83 VwGO die Beschlüsse des BVerwG vom 11. September 1963 V B 11.63, Die Öffentliche Verwaltung 1964 S. 640, und vom 13. Februar 1964 VIII C 383.63, BVerwGE 18, 53, 58).

Die Verweisung an das zuständige Gericht setzt jedoch nach § 70 Abs. 1 FGO voraus, daß ein entsprechender Antrag vorliegt. Die Antragstellerin hatte beim FG einen solchen Antrag nicht gestellt. Es besteht jedoch kein Grund, die Stellung eines solchen Antrags in der Beschwerdeinstanz für unzulässig zu erachten. Diese Möglichkeit einzuräumen, widerspricht nicht dem Wortlaut des § 70 Abs. 1 FGO und entspricht zudem dem Gebot der Prozeßökonomie, das - wie gesagt - Grundgedanke dieser Regelung ist (vgl. für die gleiche Frage hinsichtlich der entsprechenden Regelung des § 276 ZPO: Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl., § 39 II 2 c; Urteil des RG vom 24. März 1905 III 20/05, RGZ 60, 321; Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, 2. Aufl., § 276 ZPO Anm. B IV c 1).

Die Antragstellerin hat im vorliegenden Verfahren hilfsweise einen Verweisungsantrag gestellt. Diesem Antrag entsprechend müßte die Entscheidung des erkennenden Senats lauten, daß unter Aufhebung der Vorentscheidung das FG für unzuständig erklärt und der Rechtsstreit an das sachlich zuständige Gericht verwiesen wird. Da aber der erkennende Senat nach § 69 Abs. 3 FGO selbst das zuständige Gericht ist, kann die Verweisung aufgrund des Verweisungsantrags der Antragstellerin nur dazu führen, daß das Verfahren - ohne daß es dafür noch eines besonderen Verweisungsbeschlusses bedürfte - in das - nunmehr erstinstanzliche - Verfahren beim BFH überführt wird und der erkennende Senat in diesem Verfahren sachlich darüber zu entscheiden hat, ob der Antrag der Antragstellerin begründet ist (vgl. auch RG-Urteile III 20/05 und vom 21. Januar 1941 VII 32/40, RGZ 165, 374, 384; Wieczorek, a. a. O., und Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., § 276 Anm. V).

3. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung kann jedoch keinen Erfolg haben.

Die Antragstellerin hat ihren Antrag, die Vollziehung des Steuerhaftungsbescheids bis zur rechtskräftigen Entscheidung des BFH auszusetzen, vor dem FG u. a. damit begründet, daß Vollstreckungsmaßnahmen der Verwaltung drohten. Sie hat in der Beschwerdebegründung hinzugefügt, die Aussetzung der Vollziehung sei deshalb besonders eilbedürftig, weil die Vollstreckungsstelle des HZA inzwischen die Vollstreckung für den 12. Januar 1977 durch Sach- und Forderungspfändungsverfügungen angekündigt habe und sie daher genötigt gewesen sei, den angeforderten Betrag zu zahlen; dadurch seien ihr nahezu sämtliche liquiden Mittel entzogen worden, so daß sie nicht mehr in der Lage sei, ihre Geschäfte wie bisher mit Skonto zu regulieren, was zu monatlichen Ausfällen von über 50 000 DM führe. Der so begründete Antrag ist als ein Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung anzusehen.

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die Finanzgerichtsordnung dieses Rechtsinstitut überhaupt kennt (vgl. Beschluß des erkennenden Senats vom 18. Juli 1968 VII B 145 - 147/67, BFHE 93, 217, BStBl II 1968, 744). Jedenfalls kann eine entsprechende Aussetzung nur der äußerste Notbehelf des Gerichts sein zur Abwendung eines für den Steuerpflichtigen drohenden schwerwiegenden und durch überwiegende öffentliche Interessen nicht gerechtfertigten Schadens (vgl. BFH-Beschluß vom 17. Oktober 1968 IV S 10/68, BFHE 94, 8, BStBl II 1969, 80). Diese Voraussetzungen liegen im vorliegenden Fall jedoch nicht vor.

Der Schaden, der der Antragstellerin dadurch entsteht, daß sie die angeforderte Summe nach Androhung der Zwangsvollstreckung gezahlt hat, besteht in einer Einengung ihrer Liquidität und der daraus resultierenden Unmöglichkeit, Skonti ihrer Lieferanten auszunützen. Das sind aber Nachteile, die mit dem Vollzug von nicht rechtskräftigen Steuerbescheiden normalerweise verbunden sind. Sie sind die Folge der Regelung des Gesetzgebers, daß die Vollziehung von Steuerbescheiden durch die Einlegung von Rechtsbehelfen grundsätzlich nicht gehemmt wird (§ 242 Abs. 1 AO, § 69 Abs. 1 FGO). Insoweit hat die Antragstellerin zur Verhinderung dieser Nachteile nur die Möglichkeiten, welche ihr die Regelung des § 69 Abs. 2 und 3 FGO eröffnen und von denen sie bereits Gebrauch gemacht hat. Die Nachteile, die der Antragstellerin durch die Zahlung erwachsen, können nach allem nicht als ein Schaden im oben genannten Sinne angesehen werden.

Da nach allem der Antrag abzulehnen ist, braucht auf die Frage nicht eingegangen zu werden, ob trotz der inzwischen geleisteten Zahlung weiterhin eine Aussetzung der Vollziehung oder aber nur eine Aufhebung der Vollziehung (§ 69 Abs. 3 Satz 4 FGO) in Betracht kommt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 28. November 1967 VII B 13/66, BFHE 91, 323; vom 14. Mai 1968 II B 41/67, BFHE 92, 179, BStBl II 1968, 503; vom 29. März 1972 II B 38/71, BFHE 105, 100, BStBl II 1972, 494). Es kann daher auch dahingestellt bleiben, ob der Antrag der Antragstellerin in einen solchen auf Aufhebung der Vollziehung umgedeutet werden kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 413360

BStBl II 1977, 312

BFHE 1977, 161

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