Leitsatz (amtlich)

1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Bescheids im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO, wenn Einspruch und Klage gegen diesen Bescheid unzulässig sind.

2. Ein Lohnsteuernachforderungsbescheid und eine Einspruchsentscheidung werden einem Minderjährigen dadurch rechtswirksam zugestellt, daß sie einem Elternteil zugehen.

 

Normenkette

FGO § 69; VwZG § 5 Abs. 1, § 7 Abs. 3

 

Tatbestand

Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (FA) erließ am 16. Januar 1973 einen nach § 94 Abs. 1 AO geänderten Nachforderungsbescheid gegen die Eltern als gesetzliche Vertreter des minderjährigen, am 29. Oktober 1952 geborenen Antragstellers und Beschwerdeführers (Antragsteller) wegen 4 381 DM Lohnsteuer 1971 und 1972 und 438,10 DM röm.-kath. Kirchensteuer 1971 und 1972. Ein Vollziehungsbeamter des FA stellte den Bescheid am 16. Januar 1973 der Mutter des Antragstellers zu.

Gegen den Bescheid legte der Antragsteller mit einem von ihm und seinen Eltern unterschriebenen Schriftsatz vom 20. Februar 1973, eingegangen beim FA am gleichen Tag, Einspruch ein. Das FA verwarf den Einspruch durch Entscheidung vom 26. April 1973, gerichtet an den Antragsteller, gesetzlich vertreten durch seine Eltern, als unzulässig, da er verspätet erhoben sei. Die Einspruchsentscheidung wurde der Mutter des Antragstellers am 17. Mai 1973 durch zwei Vollziehungsbeamte des FA zugestellt. Gemäß einem "Vermerk über die Vornahme einer Ersatzzustellung" versuchten die beiden Vollziehungsbeamten der Mutter des Antragstellers auch die Einspruchsentscheidung für den Vater des Antragstellers zu übergeben. Da die Mutter des Antragstellers die Annahme des Schriftstücks verweigerte, wurde das Schriftstück in ihrer Wohnung zurückgelassen.

Der Antragsteller erhob beim FG am 25. Juni 1973 Klage mit dem Begehren, die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Die Klage ist beim FG noch anhängig.

In diesem Verfahren geht es um die Aussetzung der Vollziehung. Der Antragsteller begehrte mit einem am 25. Februar 1974 beim FG eingegangenen Schreiben, die Vollstreckung aus dem angefochtenen Lohnsteuernachforderungsbescheid bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den eingelegten "Einspruch" ohne Sicherheitsleistung auszusetzen. Das FA habe seinen noch nicht vollständig bezahlten Pkw gepfändet. Die Versteigerung des Pkw sei auf den 2. März 1974 angesetzt worden.

Das FG lehnte durch Beschluß vom 27. Februar 1974 den Antrag auf Aussetzung der "Vollstreckung" ab. Es führte aus, der Antrag nach § 69 Abs. 3 und Abs. 2 i. V. mit § 150 Satz 3 FGO sei unbegründet, weil keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der "Vollstrekkungsmaßnahmen" beständen. Der berichtigte Nachforderungsbescheid vom 16. Januar 1973 sei dem damals minderjährigen Antragsteller dadurch rechtswirksam zugegangen, daß er der Mutter des Antragstellers am 16. Januar 1973 durch einen Vollziehungsbeamten des FA zugestellt worden sei. Die Eltern des Antragstellers hätten die einmonatige Einspruchsfrist versäumt, da das Einspruchsschreiben erst am 20. Februar 1973 beim FA eingegangen sei. Gründe für eine Gewährung von Nachsicht seien nicht vorgetragen und auch nicht aus den Akten ersichtlich. Darüber hinaus sei auch die am 25. Juni 1973 vom Antragsteller erhobene Klage ebenfalls verspätet gewesen. Die Einspruchsentscheidung sei am 17. Mai 1973 der Mutter des Antragstellers als gesetzliche Vertreterin rechtswirksam zugestellt worden. Die Frist zur Erhebung der Klage sei mithin "am 17.6.1973" abgelaufen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist sei nicht beantragt worden; Gründe hierfür seien ebenfalls nicht erkennbar. Der Antragsteller habe nicht vorgetragen, daß die Vollziehung des Nachforderungsbescheides für ihn eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Entsprechende Umstände seien aus den Akten nicht zu entnehmen.

Der Antragsteller legte gegen den Beschluß des FG Beschwerde ein. Er rügt unrichtige Anwendung des § 7 Abs. 3 VwZG. Da den Eltern bis zu seiner Volljährigkeit die gesetzliche Vertretung gemeinschaftlich zugestanden habe, hätte die Zustellung des Nachforderungsbescheids vom 16. Januar 1973 und der Einspruchsentscheidung vom 26. April 1973 an beide erfolgen müssen. Das sei nicht geschehen. Das Zustellungsverfahren sehe Formvorschriften vor, um eine möglichst große Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu schaffen. Es könne nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß bei Zustellung an einen gesetzlichen Vertreter der andere gesetzliche Vertreter davon unterrichtet sei. Anders sei die Rechtslage, wenn das Gesetz ausdrücklich vorschreibe, der Zugang bei einem von mehreren Vertretern gelte als Zugang gegenüber dem Vertretenen, wie z. B. § 78 Abs. 2 Satz 2 des Aktiengesetzes (AktG). Eine solche Vorschrift fehle in § 7 Abs. 3 VwZG. In Abschn. III Nr. 9 Abs. 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Verwaltungszustellungsgesetz (AVVwZG) hielten die Verwaltungsbehörden die Zustellung lediglich an einen von mehreren gesetzlichen Vertretern ebenfalls für zweifelhaft. Satz 2 der Anweisung laute: "... bei Minderjährigen empfiehlt sich die Zustellung an beide Eltern, soweit nicht ausnahmsweise die gesetzliche Vertretung nur einem Elternteil zusteht." Die Zustellung des Nachforderungsbescheides und der Einspruchsentscheidung an seine Mutter sei nicht als Ersatzzustellung an seinen Vater anzusehen. Denn sein Vater habe seinen Wohnsitz und seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in Liechtenstein. Seine Mutter habe sich ausdrücklich geweigert, die Zustellung für ihren Ehemann in Empfang zu nehmen.

Der Antragsteller beantragt, unter Aufhebung des Beschlusses des FG vom 27. Februar 1974 die Vollstreckung aus dem angefochtenen Lohnsteuernachforderungsbescheid bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den eingelegten Einspruch ohne Sicherheitsleistung auszusetzen sowie hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist unbegründet.

Das Begehren des Antragstellers ist in diesem Verfahren auf Aussetzung der Vollziehung gem. § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. mit Abs. 2 Satz 2 FGO gerichtet. Es handelt sich entgegen der Ansicht des FG nicht um einen Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung im Sinne des § 150 Satz 3 FGO. § 150 FGO setzt die Vollstreckung aus einem Urteil zugunsten des Bundes, des Landes oder einer sonstigen in § 150 Satz 1 FGO aufgeführten Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts voraus (vgl. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl., § 150 FGO Anm. 1 und 2). Im Streitfall begehrt der Antragsteller Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Lohnsteuernachforderungsbescheids vom 16. Januar 1973 während eines laufenden Klageverfahrens. Ein solches Aussetzungsbegehren fällt unmittelbar unter § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. mit Abs. 2 Satz 2 FGO.

Das FG hat den Aussetzungsantrag zu Recht abgelehnt. Nach § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO 1. Alternative müssen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Lohnsteuernachforderungsbescheids vom 16. Januar 1973 bestehen, d. h. es müssen gemäß dem Beschluß des BFH vom 10. Februar 1967 III B 9/66 (BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182) bei summarischer Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sprechende Gründe zutage treten, die zur Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen führen. Solche Zweifel können beim Gericht nicht entstehen, wenn der angefochtene Bescheid wegen Unzulässigkeit des Einspruchs und der Klage unabänderlich und damit Rechtens ist.

Eine solche Rechtslage ist im Streitfall gegeben. Das FA hat den angefochtenen Nachforderungsbescheid vom 16. Januar 1973 und die Einspruchsentscheidung vom 26. April 1973 gemäß § 5 Abs. 1, § 7 Abs. 3 VwZG dadurch rechtswirksam dem damals noch minderjährigen Antragsteller zugestellt, daß es die Schriftstücke durch einen bzw. zwei Vollziehungsbeamte seiner Mutter übergeben hat. Ein Minderjähriger wird zwar von Vater und Mutter gemeinschaftlich vertreten. Nach § 7 Abs. 3 VwZG, der wörtlich dem § 171 Abs. 3 ZPO entspricht, genügt jedoch die Zustellung an einen der gesetzlichen Vertreter. Ebenso wie § 171 Abs. 3 ZPO umfaßt auch § 7 Abs. 3 VwZG den Fall einer gemeinschaftlichen gesetzlichen Vertretung. Es handelt sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der sich auch in anderen Vorschriften, wie z. B. in § 78 Abs. 2 Satz 2 AktG und § 35 Abs. 2 Satz 3 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, niedergeschlagen hat. Das hat bereits das RG im Urteil vom 31. Dezember 1902 I 320/02 (RGZ 53, 227 [230/231]) herausgestellt, indem es wörtlich ausführte:

"... Wenn aber in § 171 Abs. 3 ZPO ausgesprochen ist: 'Bei mehreren gesetzlichen Vertretern sowie bei mehreren Vorstehern genügt die Zustellung an einen derselben', so ist dies nicht eine nur für das Gebiet des Zivilprozesses zugelassene Singularität, sondern es entspricht dieser Satz einem allgemeinen Rechtsprinzip, das auch im Zivilrecht in vielen Gesetzen und in der Rechtsprechung Anwendung gefunden hat, kraft dessen Willenserklärungen einem von mehreren Kollektivvertretern gegenüber mit Wirkung für die vertretene Person abgegeben werden können, und Kenntnis einer Tatsache auf seiten eines Kollektivvertreters genügt, um Kenntnis der vertretenen Person anzunehmen."

Dementsprechend wird in der zivilrechtlichen Literatur (vgl. Soergel-Siebert, Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Aufl., § 1629 Anm. 7, und Erman, Handkommentar zum BGB, 5. Aufl., 2. Bd., § 1629 Anm. 6) für den Empfang von Willenserklärungen jeder Elternteil für sich allein als bevollmächtigt angesehen. Diese bürgerlich-rechtlichen und zivilprozessualen Grundsätze gelten auch bei der Zustellung von Schriftstücken durch Behörden gegen Empfangsbekenntnis nach § 5 Abs. 1, § 7 Abs. 3 VwZG.

Dem steht nicht entgegen, daß Abschn. III Nr. 9 Abs. 2 AVVwZG empfiehlt, bei Minderjährigen die Zustellung an beide Eltern auszuführen, sofern nicht ausnahmsweise die gesetzliche Vertretung nur einem Elternteil zusteht. Denn diese Anweisung bindet die Gerichte nicht; sie stellt zudem nur eine Empfehlung dar.

Ist mithin der geänderte Nachforderungsbescheid des FA vom 16. Januar 1973 am gleichen Tag und die Einspruchsentscheidung des FA vom 26. April 1973 am 17. Mai 1973 durch Zustellung an die Mutter des Antragstellers mit Wirkung für und gegen den damals noch minderjährigen Antragsteller zugegangen, so haben die Eltern des Antragstellers die einmonatige Einspruchsfrist (§ 236 Abs. 1 AO) und die einmonatige Klagefrist (§ 47 Abs. 1 FGO) versäumt. Die Frist zur Erhebung des Einspruchs endete am 16. Februar 1973 und die Frist zur Erhebung der Klage lief am 18. Juni 1973 ab (der 17. Juni 1973 war ein Sonntag). Das Einspruchsschreiben ging erst am 20. Februar 1973 beim FA und die Klage erst am 25. Juni 1973 beim FG ein. Gründe für eine Nachsichtgewährung (§ 86 AO) bzw. für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) wurden vom Antragsteller (bzw. von seinen Eltern) unstreitig nicht vorgebracht. Sie sind auch aus den Akten nicht ersichtlich.

Da der angefochtene Lohnsteuernachforderungsbescheid vom 16. Januar 1973 wegen Unzulässigkeit des Einspruchs und der Klage unabänderlich geworden ist, braucht der Senat zur Frage, ob die Vollziehung des Nachforderungsbescheides für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. mit Abs. 2 Satz 2 FGO 2. Alternative), nicht Stellung zu nehmen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70667

BStBl II 1974, 640

BFHE 1975, 1

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