Entscheidungsstichwort (Thema)

(Keine Zulassung der Revision wegen überlanger Verfahrensdauer - Aussetzung der Vollziehung oder Verfassungsbeschwerde bei nicht rechtzeitiger Rechtsschutzgewährung - Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung - Darlegung des Verfahrensmangels in der Beschwerdeschrift - Verwirkung eines Steueranspruchs)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Revision ist nicht schon deshalb wegen Verfahrensfehlers zuzulassen, weil das Verfahren vor dem FG übermäßig lange gedauert hat.

2. Eine überlange Verfahrensdauer führt grundsätzlich nicht zur Verfassungs- und Rechtswidrigkeit des angefochtenen Steuerbescheids. Diese Rechtsfrage hat keine grundsätzliche Bedeutung.

 

Orientierungssatz

1. Bei nicht rechtzeitiger Rechtsschutzgewährung kommen die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide sowie ggf. die Anrufung des BVerfG mit der Verfassungsbeschwerde in Betracht (vgl. BVerfG-Rechtsprechung; Literatur). Hingegen gebietet es die Rechtsschutzgarantie auch bei überlanger Verfahrensdauer nicht, dem Steuerpflichtigen die Aussetzungszinsen ganz oder teilweise zu erlassen, wenn die Vollziehung der angefochtenen Bescheide ausgesetzt war (vgl. BFH-Urteil vom 21.2.1991 V R 105/84).

2. Die Darlegung des Verfahrensmangels in der Beschwerdeschrift (§ 115 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 S. 3 FGO) erfordert, daß die Tatsachen, die den Verfahrensmangel ergeben, genau angegeben und außerdem dargelegt wird, daß das Urteil des FG auf dem Mangel beruhen kann (vgl. BFH-Rechtsprechung; Literatur).

3. Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache kommt nur wegen einer klärungsbedürftigen und im Revisionsverfahren klärungsfähigen Rechtsfrage in Betracht. An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es insbesondere, wenn sich die streitige Rechtsfrage ohne weiters aus dem Gesetz beantworten läßt (vgl. Literatur).

4. Die Verwirkung eines Steueranspruchs führt dazu, daß der Anspruch zwar noch besteht, aber nicht mehr geltend gemacht werden kann. Verwirkung tritt ein, wenn ein Berechtigter durch sein Verhalten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, daß nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung eines Rechts als unlautere Rechtsausübung angesehen werden muß (vgl. Literatur).

 

Normenkette

FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1, 3, Abs. 3 S. 3, § 69 Abs. 2; GG Art. 19; AO 1977 §§ 227, 237; EMRK Art. 6 Abs. 1

 

Tatbestand

Im Jahre 1970 erwarben die Kläger je zur Hälfte ein Grundstück in L, das sie anschließend mit einem Mehrfamilienhaus bebauten. Das Objekt wurde in sechs Eigentumswohnungen aufgeteilt, die nach Fertigstellung im November und Dezember 1972 gegen Zahlung von insgesamt 730 000 DM an sechs verschiedene Erwerber veräußert wurden. Im Jahre 1971 erwarben die Kläger, wiederum je zur Hälfte, ein Grundstück in K, bebauten es, teilten es in 18 Eigentumswohnungen und ein Teileigentum (Laden) auf und veräußerten diese alsdann an verschiedene Erwerber.

In ihren Einkommensteuererklärungen für 1970 und 1971 erklärten die Kläger für die Objekte L und K Verluste bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb. Den Erklärungen waren jeweils als "Überschuß der Einnahmen über die Ausgaben" bezeichnete Gewinnermittlungen beigefügt. Die Kaufpreise für die Grundstücke und die Baukosten wurden dabei nicht im Zeitpunkt der Zahlung als Betriebsausgaben abgezogen. Für das Objekt L wurden sie bei den Gewinnermittlungen 1972 und 1973 von den Einnahmen abgezogen. Für das Objekt K wurden für 1973 und 1974 Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen eingereicht.

Nach einer Betriebsprüfung erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) am 15.Mai 1979 geänderte Feststellungsbescheide. Dabei ging das FA entsprechend den Vorschlägen des Prüfers u.a. davon aus, daß es sich (auch) bei dem Objekt L um eine gewerbliche Tätigkeit gehandelt habe, daß der Gewinn durch Überschußrechnung nach § 4 Abs.3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu ermitteln sei, daß wegen Übergangs zur Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich ein Übergangsgewinn angefallen sei (dieser wurde auf die Jahre 1973 bis 1975 verteilt) und daß wegen Nichtordnungsmäßigkeit der Buchführung 1973 bis 1975 ein Abzug der Verluste der Jahre 1970 bis 1972 nicht in Betracht komme. Die ermittelten Einkünfte wurden entsprechend festgestellt und den Klägern je zur Hälfte zugerechnet.

Der Einspruch hatte nur zum Teil Erfolg. Das FA folgte insbesondere nicht der Auffassung der Kläger, beim Objekt L handele es sich nicht um einen Gewerbebetrieb und der Gewinn sei, soweit eine gewerbliche Tätigkeit vorgelegen habe, auch für 1971 bis 1972 durch Betriebsvermögensvergleich zu ermitteln.

Die dagegen im Jahre 1980 erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 1.Juni 1990 ab.

Das FG hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen und der Beschwerde dagegen nicht abgeholfen. Die Beschwerde wird auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Verfahrensmängel gestützt.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist unbegründet.

I. Rüge der überlangen Verfahrensdauer

1. Mit der Beschwerde wird "überlange Verfahrensdauer" beim FG (Klageerhebung 1980, Urteil 1990) gerügt.

a) Die Klägerin führt aus: Im Dezember 1985 habe erstmals ein Erörterungstermin beim Berichterstatter des FG stattgefunden, bei dem das FA einen Vergleichsvorschlag des FG abgelehnt habe. Zu einem neuen Erörterungstermin beim Berichterstatter sei es erst im März 1990 gekommen, wobei erstmalig in eine Prüfung der Buchführung des Klägers eingetreten worden sei. Unter Anlehnung an Art.6 Abs.1 Satz 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Menschenrechtskonvention --MRK--) und das dort statuierte Beschleunigungsgebot für Gerichtsverfahren werde (von der Klägerin) angenommen, daß eine Verletzung des Art.19 Abs.4 des Grundgesetzes (GG) gegeben sei, wenn eine angemessene Verfahrensdauer bei einem Gerichtsverfahren überschritten worden sei. Dies sei auch aus Art.103 Abs.1 GG abzuleiten, der nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein rechtzeitiges Gehör fordere. Es komme auch ein Verstoß gegen Art.14 Abs.1 GG und gegen Art.2 Abs.1 GG in Betracht. Verfassungswidrig werde ein Steuerbescheid, wenn in dem gegen den Steuerbescheid angestrebten Rechtsbehelfsverfahren die angemessene Verfahrensdauer überschritten sei (vgl. Stöcker, Deutsche Steuer-Zeitung --DStZ-- 1989, 367 f.; Neckels, DStZ 1990, 244; Kirchhof in Birk, Die Situation der Finanzgerichtsbarkeit, Münsteraner Symposion 1988, 19 f.). Stöcker habe zutreffend betont, daß gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen werde, wenn das FG länger als zwei Jahre untätig sei und für die Untätigkeit kein Grund oder nur die allgemeine Überlastung des Gerichts angegeben werde und ein schuldhaft säumiges Verhalten des Klägers nicht vorgelegen habe. Danach sei im Streitfall gegen das Beschleunigungsgebot verstoßen worden. Die überlange Verfahrensdauer sei in der Überlastung des FG X zu sehen, die ihren Grund in der zu geringen personellen Ausstattung habe.

Werde die angemessene Verfahrensdauer, wie im Streitfall, in einem erheblichen Umfang überschritten, könnten die rechtlichen Möglichkeiten des Steuerpflichtigen sich nicht darin erschöpfen, daß etwa im Wege der Verfassungsbeschwerde das Gericht angehalten werde, nunmehr eine Entscheidung zu treffen. Es sei Aufgabe der staatlichen Organe, dem Bürger die gerichtliche Durchsetzung seiner Ansprüche in angemessener Frist zu ermöglichen. Eine überlange Verfahrensdauer (im Streitfall ca. 8 bis 9 Jahre) müsse bei Steuerbescheiden zu Lasten des Fiskus gehen, indem die dem Verfahren zugrunde liegenden Bescheide nebst dem Urteil des FG ersatzlos aufgehoben werden, weil nur auf diese Weise die Grundrechtsheilung herbeigeführt werden könne (vgl. dazu Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1490/89, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1990, 162). Die grundsätzliche Bedeutung der Sache ergebe sich aus den sachkundigen Ausführungen im angeführten Schrifttum. Die Rechtsfrage sei auch klärungsbedürftig, weil dazu eine richtungsweisende Rechtsprechung noch nicht bekannt geworden sei.

Es werde angenommen, daß es sich um einen Verfahrensmangel handele, der zunächst vor dem Bundesfinanzhof (BFH) gerügt werden müsse, bevor eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) möglich sei. Das sei auch dann der Fall, wenn die Sache vom BFH ggf. dem BVerfG nach Art.100 Abs.1 GG zur Entscheidung vorgelegt werden müsse. Es werde allgemein angenommen, daß auch in diesem Fall zunächst eine Ausschöpfung des Rechtswegs erfolgen müsse (vgl. dazu Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, 1988, 94, 95).

Die Beschwerde beziehe sich auch auf die den Klägern auferlegten Verfahrenskosten. Kosten, die durch die Überlänge des Verfahrens entstanden seien, könnten dem Kläger auch dann nicht auferlegt werden, wenn er materiell unterliege.

b) Aus diesen Ausführungen ergibt sich kein Zulassungsgrund nach § 115 Abs.2 Nr.3 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Nach § 115 Abs.2 Nr.3 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn bei einem geltend gemachten Verfahrensmangel die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Dazu muß der Verfahrensmangel in der Beschwerdeschrift dargelegt werden (§ 115 Abs.3 Satz 3 FGO). Dies erfordert, daß die Tatsachen, die den Verfahrensmangel ergeben, genau angegeben und außerdem dargelegt wird, daß das Urteil des FG auf dem Mangel beruhen kann (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 8.November 1973 V R 130/69, BFHE 110, 493, BStBl II 1974, 219, und vom 14.Januar 1981 I R 133/79, BFHE 132, 508, BStBl II 1981, 443; BFH-Beschluß vom 23.Oktober 1985 I R 242/82, BFH/NV 1986, 613; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl., § 115 Rz.65, § 120 Rz.38; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO Tz. 90).

Nach § 6 Abs.1 Satz 1 MRK hat jedermann Anspruch u.a. darauf, daß seine Sache innerhalb angemessener Frist von einem unabhängigen Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 28.Juni 1978 - C (78) 31 im Fall König (Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1979, 477) erstreckt das Beschleunigungsgebot des Art.6 Abs.1 MRK sich auch auf bestimmte Verwaltungsstreitverfahren. Für Art.6 Abs.1 MRK ist nach Auffassung des EGMR allein die Tatsache maßgeblich, daß die in Frage stehenden Rechtsstreitigkeiten die Entscheidung über privatrechtliche Ansprüche zum Gegenstand haben. Steuerstreitigkeiten, selbst wenn sie sich auf die Vermögenslage des Betroffenen auswirken, begründen indes nach der Zuständigkeitsentscheidung Nr.2552/65 der Kommission (Collection of Decisions 26.1) keine Zuständigkeit nach Art.6 Abs.1 MRK, da das für dieses Verfahren ausschlaggebende Steuerrecht dem öffentlichen Recht zuzuordnen sei (vgl. Peukert, Europäische Grundrechte Zeitschrift --EuGRZ-- 1979, 261, 267, und Mössner, Steuer und Wirtschaft --StuW-- 1991, 224, 226 m.w.N.).

Selbst wenn man aber mit der Klägerin von einer gegen Art.6 Abs.1 MRK verstoßenden Überlänge des Verfahrens ausgeht, kann die Revision nicht wegen Verfahrensfehlers zugelassen werden. Die Klägerin hat nämlich nicht dargelegt, daß die Entscheidung des FG auf dem angenommenen Verfahrensmangel beruhen kann. Dazu hätte dargelegt werden müssen, daß die Entscheidung des FG anders und für die Klägerin günstiger hätte ausfallen können, wenn das FG seine Entscheidung binnen eines angemessenen Zeitraums, also ohne den Verfahrensfehler der überlangen Verfahrensdauer, getroffen hätte. Dies ist indes nicht geschehen. Ein Verfahrensfehler kann nicht bereits darin gesehen werden, daß das FG noch eine für die Klägerin ungünstige Sachentscheidung nach Ablauf von etwa 10 Jahren seit Klageerhebung und etwa 11 seit Einlegung des Einspruchs gegen die Steuerbescheide getroffen hat. Nach den Vorschriften der FGO mußte das FG in dem seit 1980 anhängigen Rechtsstreit auch noch im Jahre 1990 die Entscheidung treffen, die sich nach seiner Überzeugung aus den einschlägigen Vorschriften des materiellen Rechts ergaben. Eine abweichende Auffassung wird auch in dem von der Klägerin angeführten Schrifttum nicht vertreten. Damit hätte das FG, geht man von der Rechtsauffassung der Klägerin aus, die überlange Verfahrensdauer bewirke die Rechtswidrigkeit (auch) der angefochtenen Steuerbescheide und der Einspruchsentscheidung, nicht gegen Verfahrensrecht, sondern gegen materielles Recht verstoßen.

Die Klägerin hat sich auch auf Art.19 Abs.4 GG und Art.103 Abs.1 GG berufen. Nach Art.19 Abs.4 Satz 1 GG steht einem durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten Verletzten der Rechtsweg offen. Dazu hat das BVerfG mehrfach ausgesprochen, daß der damit gewährleistete Rechtsschutz zumal auch einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit bedeute (vgl. Beschlüsse vom 28.Oktober 1975 2 BvR 883/73 und 379, 497, 526/74, BVerfGE 40, 237 ff., 256 f.; vom 16.Dezember 1980 2 BvR 419/80, BVerfGE 55, 349 ff., 369; vom 29.April 1981 2 BvR 348/81, EuGRZ 1982, 75; vom 22.Januar 1987 1 BvR 103/85, Der Betrieb --DB-- 1987, 1722; vom 20.Mai 1988 1 BvR 273/88, unter 5. a, Steuerrechtsprechung in Karteiform --StRK--, Einkommensteuergesetz 1975, § 5, Rücklagen, Rechtsspruch 2).

Auch insoweit gilt jedoch, daß das Gericht nicht bereits dadurch in einer zur Zulassung der Revision führenden Weise gegen Verfahrensvorschriften verstößt, daß es noch nach überlanger Verfahrensdauer eine Sachentscheidung trifft.

2. Aus den Ausführungen zur Verfahrensdauer ergibt sich auch kein Zulassungsgrund nach § 115 Abs.2 Nr.1 FGO. Denn die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, ob eine überlange Dauer des Verfahrens vor dem FG die Rechtswidrigkeit sowohl des FG- Urteils als auch der angefochtenen Steuerbescheide und der Einspruchsentscheidung bewirkt, ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne der genannten Vorschrift.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist einer Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beizumessen, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (vgl. z.B. Beschluß vom 27.Juni 1985 I B 27/85, BFHE 144, 137, BStBl II 1985, 625). Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache kommt daher nur wegen einer klärungsbedürftigen und im Revisionsverfahren klärungsfähigen Rechtsfrage in Betracht (Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz.8; Tipke/Kruse, a.a.O., § 115 FGO Tz.53, jeweils m.w.N.). An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es insbesondere, wenn sich die streitige Rechtsfrage ohne weiteres aus dem Gesetz beantworten läßt (vgl. BFH-Beschluß vom 11.Juli 1972 IV B 61/71, BFHE 106, 276, BStBl II 1972, 792).

Weder aus den Steuergesetzen noch aus Art.6 Abs.1 MRK noch aus Vorschriften des GG läßt sich die von der Klägerin behauptete Rechtsfolge ableiten, ein Steuerbescheid werde rechtswidrig und müsse ersatzlos aufgehoben werden, wenn das FG über die bei ihm eingelegte Klage nicht binnen angemessener Zeit entschieden habe. Diese Rechtsfolge wird auch in dem von der Klägerin angeführten Schrifttum nicht behauptet.

b) Nach § 47 der Abgabenordnung (AO 1977) erlöschen Ansprüche aus dem Steuerrechtsverhältnis insbesondere durch Zahlung oder Aufrechnung (§§ 224 bis 226 AO 1977), durch Billigkeitserlaß (§§ 163, 227 AO 1977), durch Verjährung (§§ 169 bis 171, §§ 228 bis 232 AO 1977), ferner durch Eintritt der Bedingung bei auflösend bedingten Ansprüchen (vgl. § 50 AO 1977). Die Beteiligten gehen übereinstimmend davon aus, daß die Steueransprüche gegen die Klägerin nicht nach diesen Vorschriften erloschen sind. Unter besonderen Umständen kann der Steuergläubiger seinen Anspruch auch verwirken. Die Verwirkung führt dazu, daß der Anspruch zwar noch besteht, aber nicht mehr geltend gemacht werden kann (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 47 AO 1977 Tz.5; Koch/Halaczinsky, Abgabenordnung, 3.Aufl., § 47 Tz.9; Kühn/ Kutter/Hofmann, Abgabenordnung, 16.Aufl., § 47 Anm.1). Verwirkung tritt ein, wenn ein Berechtigter durch sein Verhalten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen hat, daß nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung eines Rechts als unlautere Rechtsausübung angesehen werden muß (vgl. Tipke/ Kruse, a.a.O., § 4 AO 1977 Tz.67 m.w.N., und Kühn/Kutter/ Hofmann, a.a.O., Anhang § 4 Anm.5 b cc).

Im Streitfall kann eine Verwirkung schon deshalb nicht vorliegen, weil es zu einer überlangen Verfahrensdauer erst durch die späte Entscheidung über die Klage gekommen sein kann. Das FA als Vertreter des Steuergläubigers hatte auf den Verfahrensablauf keinen unmittelbaren Einfluß. Es hat den Klageanträgen widersprochen und schon dadurch verhindert, daß ein Vertrauen darauf, die Steueransprüche würden nicht mehr geltend gemacht werden, entstehen konnte.

c) Auch eine (unterstellte) Verletzung des Art.6 Abs.1 MRK kann das Erlöschen der Steueransprüche und als Folge hiervon die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide, der Einspruchsentscheidung und des FG-Urteils offensichtlich nicht zur Folge haben. Die bloße Verfahrensdauer hat keinen Einfluß auf die Begründetheit der streitgegenständlichen Ansprüche (Peukert, EuGRZ 1979, 261, 264) und damit auch nicht auf die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots hat konventionsrechtlich zur Folge, daß der EGMR nach Art.50 MRK der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zubilligt, wenn die innerstaatlichen Gesetze nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Verletzungshandlung gestatten. Fragen einer etwaigen Entschädigung wären aber nicht Gegenstand eines Revisionsverfahrens beim BFH. Die Revision gegen das Urteil des Gerichts, dessen Verfahren übermäßig lang gewesen sein soll, ist deshalb auch nicht nach Art.26 MRK, der die Beschwerde an den EGMR von der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs abhängig macht, Voraussetzung für das konventionsrechtliche Beschwerdeverfahren (Peukert, EuGRZ 1979, 261, 264). Im übrigen hat die Europäische Kommission für Menschenrechte, wie dargelegt (vgl. oben 1.b) in ständiger Rechtsprechung die Einbeziehung steuerrechtlicher Verfahren in den Schutzbereich des Art.6 MRK abgelehnt.

d) Entsprechendes gilt für die behauptete Verletzung des Art.19 Abs.1 Satz 1 und der Art.2 Abs.1, 14 und 103 Abs.1 GG. Auch bei verspäteter Rechtsschutzgewährung muß das Gericht in der Sache entsprechend der gegebenen materiellen Rechtslage entscheiden. Das Grundrecht auf Rechtsschutzgewährung kann jedenfalls im Besteuerungsverfahren nicht so weit gehen, daß der Bürger nur deshalb, weil die angemessene Verfahrensdauer vor dem von ihm angerufenen FG überschritten wird, von den durch die angefochtenen Bescheide festgesetzten Steuern freigestellt wird. Der Bürger wird dadurch gegenüber einer nicht gerechtfertigten Verfahrensverzögerung nicht rechtlos gestellt. Insbesondere kommen bei nicht rechtzeitiger Rechtsschutzgewährung die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide (§ 361 Abs.1 AO 1977, § 69 FGO; vgl. Kirchhof in Festschrift für Karl Doehring, 1989, 439, 452, und DStZ 1989, 55, 59; Stöcker, DStZ 1989, 367, 377) sowie ggf. die Anrufung des BVerfG mit der Verfassungsbeschwerde (vgl. Beschlüsse des BVerfG in EuGRZ 1982, 75; vom 24.November 1983 2 BvR 121/83, NJW 1984, 967, und in DB 1987, 1722) in Betracht.

Hingegen gebietet es die Rechtsschutzgarantie auch bei überlanger Verfahrensdauer nicht, dem Steuerpflichtigen die Aussetzungszinsen (§ 237 AO 1977) ganz oder teilweise gemäß § 227 AO 1977 zu erlassen, wenn die Vollziehung der angefochtenen Bescheide ausgesetzt war (BFH-Urteil vom 21.Februar 1991 V R 105/84, BFHE 163, 313, BStBl II 1991, 498). Denn bei überlanger Verfahrensdauer hat der Steuerpflichtige bei gewährter Vollziehungsaussetzung während des gesamten Zeitraums der Aussetzung den Vorteil, vorerst von der Zahlung der geschuldeten Abgaben freigestellt zu sein, so daß es gerechtfertigt ist, auch für den gesamten Zeitraum, auch den der überlangen Verfahrensdauer, den Vorteil durch Erhebung von Aussetzungszinsen auszugleichen, wenn und soweit der Steuerpflichtige endgültig unterliegt. Dann aber kann die Rechtsschutzgarantie es erst recht nicht gebieten, die angefochtenen Steuerbescheide selbst trotz materieller Rechtmäßigkeit nur wegen überlanger Verfahrensdauer ersatzlos aufzuheben oder im besonderen Verfahren nach §§ 163, 227 AO 1977 die Steuern zu erlassen und damit den Steuerpflichtigen nicht nur von der Zahlung von Aussetzungszinsen, sondern sogar von der Zahlung der Steuer selbst freizustellen. Es liegt auf der Hand, daß sich diese Rechtsfolgen auch nicht aus Art.2 Abs.1, Art.14 oder Art.103 Abs.1 GG ableiten lassen.

3. Dieser rechtlichen Wertung steht nicht entgegen, daß bei bestimmten Verfahren die überlange Verfahrensdauer entsprechend der Eigenart des jeweiligen Verfahrens in besonders gelagerten Ausnahmefällen auch Auswirkungen auf die Sachentscheidung in diesem Verfahren haben kann. So ist vom BVerfG ausgesprochen worden, daß sich im Strafverfahren unmittelbar aus dem Rechtsschutzgebot des GG ein Verfahrenshindernis ergeben kann, wenn das Ausmaß der Verfahrensverzögerung besonders gravierend und die Dauer des Verfahrens zudem mit besonderen Belastungen für den Beschuldigten, beispielsweise mit länger andauerndem Vollzug der Untersuchungshaft, einhergegangen ist (BVerfG-Beschluß in NJW 1984, 967). Im Beschlußfalle entschied das BVerfG gleichwohl, die Verurteilung nach einer Verfahrensdauer von fast 13 Jahren bei von der Staatsanwaltschaft und dem Gericht verursachten erheblichen Verzögerungen verletze den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten, da besondere Belastungen, die mit der Dauer des Verfahrens einhergegangen seien, weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich seien. Für das Konkursverfahren hat das BVerfG offengelassen, ob sich bei überlanger Verfahrensdauer trotz der bereits nach den konkursrechtlichen Vorschriften gegebenen Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung aus dem Rechtsschutzgebot ein Anspruch auf Einstellung des Verfahrens ergibt (Beschluß des BVerfG vom 14.Februar 1979 1 BvR 296/78, EuGRZ 1979, 363). Im Falle einer vorläufigen Dienstenthebung im Rahmen eines Disziplinarverfahrens hat das BVerfG entschieden, die Rücksicht auf das gemeine Wohl lasse die Suspendierung auch bei einer längeren Dauer des Disziplinarverfahrens vorbehaltlich Fälle einer offenkundigen Verfahrensverschleppung regelmäßig nicht als einen Eingriff erscheinen, der von einem bestimmten Zeitpunkt an mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar werde (Beschluß vom 4.Oktober 1977 2 BvR 80/77, BVerfGE 46, 17, 29 f.). Für das finanzgerichtliche Verfahren folgt hieraus, daß die Dauer des Verfahrens als solche weder dem Grunde noch der Höhe nach Auswirkungen auf die geltend gemachten Steueransprüche haben kann. Im Besteuerungsverfahren geht es um die Durchsetzung eines vom Steuergläubiger behaupteten, vom Steuerbürger jedoch bestrittenen Steueranspruchs. Besondere Belastungen persönlicher oder wirtschaftlicher Art, die über die mit jeder Prozeßführung zwangsläufig verbundenen Belastungen und über die Belastungen durch die Steuerzahlung als solche hinausgehen, sind mit dem Verfahren im allgemeinen und auch im Streitfall nicht verbunden.

Hiervon ist offensichtlich auch das BVerfG in seinem Beschluß in StRK, Einkommensteuergesetz 1975, Rücklagen, Rechtsspruch 2 ausgegangen. In diesem Beschluß hat das BVerfG eine sachlich nicht vertretbare und verfassungsrechtlich bedenkliche überlange Dauer des Verfahrens vor dem FG angenommen. Das Gericht hat daraus gleichwohl nicht gefolgert, der angefochtene Steuerbescheid sei deshalb verfassungs- und rechtswidrig, sondern hat die Verfassungsbeschwerde des Steuerpflichtigen abgewiesen.

II. Sonstige Verfahrensrügen

Auch die übrigen Verfahrensrügen sind unbegründet. Insoweit wird gemäß Art.1 Nr.6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs von einer Begründung abgesehen.

Danach war die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 63933

BFH/NV 1992, 11

BStBl II 1992, 148

BFHE 165, 469

BFHE 1992, 469

BB 1992, 124

BB 1992, 124-126 (LT)

DB 1992, 306-308 (LT)

DStZ 1993, 381 (K)

HFR 1992, 185 (LT)

StE 1992, 9 (K)

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