Entscheidungsstichwort (Thema)

BFH äußert Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 233a AO 1977

 

Leitsatz (NV)

1. Was ist unter einer Steuernachforderung i.S. des § 233a Abs. 1 AO 1977 zu verstehen?

2. Ist die Nichtberücksichtigung freiwilliger Vorauszahlungen in § 233a AO 1977 verfassungskonform?

 

Normenkette

AO 1977 §§ 233a, 224; BGB § 362 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, reichte erst am 4. April 1991 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) ihre Körperschaftsteuererklärung 1989 ein. Aufgrund der Erklärung setzte das FA durch Körperschaftsteuerbescheid 1989 vom 22. Novemer 1991 eine Körperschaftsteuerschuld in Höhe von 2637722 DM fest. Nach der Anrechnungsverfügung waren auf diese Steuerschuld 1963839 DM entrichtet. Den Restbetrag in Höhe von 673883 DM stellte das FA einerseits zum 27. Dezember 1991 fällig, um ihn gleichzeitig noch zum 22. November 1991 mit der Abtretung einer gleich hohen Steuererstattung zu verrechnen.

Das FA erließ außerdem am 22. November 1991 einen Zinsbescheid gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO 1977) i.d.F. des Art. 15 Nr. 3 des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25. Juli 1988 (BGBl I 1988, 1093, BStBl I 1988, 224) und des Wohnungsbauförderungsgesetzes vom 22. Dezember 1989 (BGBl I 1989, 2408, BStBl I 1989, 505) über Zinsen in Höhe von 105508 DM. Zur Berechnung der festgesetzten Zinsen ging es von einer Körperschaftsteuerschuld 1989 in Höhe von (abgerundet) 2637700 DM aus, die am 1. April 1991 noch nicht zum Soll gestellt war. Von dieser Steuerschuld berechnete es Zinsen für die Zeit vom 1. April bis 30. November 1991 (8 Monate x 0,5 v.H. von 2637700 DM = 105508 DM).

Gegen den Zinsbescheid legte die Klägerin Einspruch ein. Sie machte geltend, mit der Körperschaftsteuererklärung 1989 eine Abtretungserklärung der X-GmbH vom 2. April 1991 über deren Steuererstattungsansprüche wegen Körperschaftsteuer 1990 in Höhe von 3327970,62 DM gegenüber dem FA Z eingereicht und gleichzeitig um die Verrechnung der Erstattungsansprüche gegen die Steuerschuld gebeten zu haben. Tatsächlich belief sich der abgetretene Steuererstattungsanspruch der X-GmbH auf 3881431 DM. Er wurde durch einen Steuerbescheid festgesetzt, den das FA Z der X-GmbH am 18. Juli 1991 bekanntgab. Der Erstattungsanspruch wurde in Höhe eines Teilbetrages von 3120034 DM am 5. Juli 1991 und in Höhe des Restbetrages von 761397 DM am 21. August 1991 fällig. Er wurde wie folgt auf die Steuerschulden der Klägerin umgebucht:

am 1. August 1991: auf Körperschaftsteuer 1989 1960034 DM und auf Kapitalertragsteuer 1989 1160000 DM

am 22. November 1992: auf Körperschaftsteuer 1989 673883 DM und auf Körperschaftsteuer 1990 87514 DM.

Die Klägerin war und ist der Auffassung, daß mit dem Zugang der Abtretungs- und Aufrechnungserklärung die eigene Körperschaftsteuerschuld 1989 rückwirkend zum 1. Januar 1991 erloschen sei, weshalb für den Erlaß eines Zinsbescheides kein Raum mehr sei.

Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.

Die Klägerin stützt ihre vom Finanzgericht (FG) zugelassene Revision auf die Verletzung des § 233a AO 1977.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat fordert den Bundesminister der Finanzen (BMF) zum Beitritt auf (§ 122 Abs. 2 FGO), weil in dem anhängigen Revisionsverfahren voraussichtlich über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu § 233a AO 1977 einschließlich der nach der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift zu entscheiden sein wird.

1. Der Senat geht bei seiner Beitrittsaufforderung davon aus, daß die von der Klägerin am 4. April 1991 erklärte Aufrechnung möglicherweise mangels Fälligkeit der Forderung, mit der aufgerechnet werden sollte, unwirksam war. Dem FA lag jedoch seit dem 4. April 1991 die Abtretung der Steuererstattungsforderungen der X-GmbH zugunsten der Klägerin vor. Zusätzlich hatte die Klägerin um die Verrechnung dieser Erstattungsforderung mit der eigenen Steuerschuld gebeten. Wenn das FA bei dieser Sachlage die Erstattungsforderung mit den Steuerschulden der Klägerin verrechnete, so ist hierin entweder eine Aufrechnung durch das FA oder doch zumindest die Annahme des Angebotes auf Abschluß eines Aufrechnungsvertrages zu sehen. Die vollzogene Verrechnung löste so oder so die Rechtsfolgen des § 226 AO 1977 i.V.m. § 389 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) aus. Entsprechend ging die Steuerschuld der Klägerin bei Fälligkeit der Erstattungsforderung unter. Dies war spätestens am 21. August 1991.

2. Von dem unter 1. Gesagten ausgehend stellt sich bei der Entscheidung über die Revision die Rechtsfrage, ob die Festsetzung der Körperschaftsteuer 1989 am 22. November 1991 zu einer Steuernachforderung i.S. des § 233a Abs. 1 AO 1977 führte.

a) Dazu kann man aus § 233a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 ableiten, daß unter Steuernachforderung im Sinne der Vorschrift etwas zu verstehen ist, was fällig werden kann. Dies spricht dafür, die Steuernachforderung i.S. des § 233a Abs. 1 AO 1977 mit der in § 49 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) genannten Abschußzahlung gleichzusetzen. Dies würde jedoch zu dem eigenartigen Ergebnis führen, daß freiwillige Vorauszahlungen, die zwar nach dem in § 233a Abs. 2 Satz 1 AO 1977 genannten Zeitpunkt, aber vor der Steuerfestsetzung geleistet werden, dann eine Verzinsung der eigentlichen Steuerschuld ausschließen, wenn dieselbe in voller Höhe getilgt wird. Reicht dagegen die freiwillige Vorauszahlung nicht aus, um die Steuerschuld in voller Höhe zu tilgen, so ergibt sich durch die Steuerfestsetzung eine Abschlußzahlung mit der Folge, daß die Zinsen von einem anderen höheren Unterschiedsbetrag berechnet werden. Dies wäre mit Sinn und Zweck des § 233a Abs. 2 Satz 1 AO 1977 unvereinbar. Die unterschiedlichen Ergebnisse müßten möglicherweise sogar als willkürlich bezeichnet werden.

b) Versteht man deshalb (trotz der von § 233a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 ausgehenden Bedenken) unter der Steuernachforderung i.S. des § 233a Abs. 1 Satz 1 AO 1977 den Unterschiedsbetrag i.S. des § 233a Abs. 3 AO 1977, so würde dies zwar dem Grundsatz der Sollverzinsung entsprechen. Die Auslegung wirft jedoch die Frage auf, ob nicht die Nichtberücksichtigung freiwilliger Vorauszahlungen unverhältnismäßig und deshalb willkürlich ist. Sie widerspricht jedenfalls dem Grundgedanken der Verzinsung, der eine noch nicht erfüllte Schuld voraussetzt. Sie widerspricht auch dem Grundgedanken des § 362 Abs. 1 BGB, auf dem § 224 AO 1977 aufbaut. Danach bewirken auch freiwillige Vorauszahlungen das Erlöschen der Steuerschuld. Von der Erfüllungswirkung her unterscheidet das Gesetz nicht zwischen Vorauszahlungen, die aufgrund einer vorherigen Sollstellung geleistet werden, und solchen, denen eine solche Sollstellung nicht zugrunde liegt. Die Nichtberücksichtigung freiwilliger Vorauszahlungen wiegt dann um so schwerer, wenn zwischen der zu leistenden Abschlußzahlung und dem Unterschiedsbetrag i.S. des § 233a Abs. 3 AO 1977 erhebliche Differenzen bestehen. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, daß die festzusetzende Steuernachforderung bei Tilgung aufgrund einer freiwilligen Vorauszahlung gar nicht mehr fällig werden kann. Der Zinsablauf endet in einem solchen Fall immer erst vier Jahre nach seinem Beginn (§ 233a Abs. 2 Satz 3 AO 1977). In anderen Fällen, in denen eine Abschlußzahlung fällig gestellt wird, hat der Steuerpflichtige keinen Einfluß auf den Zeitpunkt der Steuerfestsetzung und damit auf den Zinsablauf. Die Zinsschuld fällt um so höher aus, je länger das FA mit der Steuerfestsetzung abwartet, obwohl die Steuernachforderung (in dem hier angenommenen Sinne) in wesentlichen Teilen längst getilgt ist. Der Streitfall macht dies sehr plastisch, wenn man unterstellt, daß die Steuerfestsetzung gegenüber der Klägerin erst am 22. November 1992 durchgeführt worden wäre und zu einer Abschlußzahlung von nur 1 DM geführt hätte. Dann hätte sich die Zinsschuld mehr als verdoppelt, obwohl seit dem 21. August 1991 nur noch 1 DM geschuldet wurde.

3. Sollte die unter 2. b angenommene Auslegung zu willkürlichen Ergebnissen führen, so wirft dies zunächst die Frage auf, ob nicht gerade deshalb zu der unter 2. a angenommenen Auslegung zurückzukehren ist. Dann wäre einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) die Grundlage entzogen, weil jedenfalls im konkreten Streitfall eine Zinsschuld der Klägerin mangels Steuernachforderung nicht gegeben wäre. Man kann allerdings der Auffassung sein, daß die verfassungskonforme Auslegung nicht zu Ergebnissen führen darf, die in anderen Fällen als dem Streitfall als willkürlich empfunden werden müssen. Unter diesem Gesichtspunkt könnte sich für den Senat die Frage der Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG stellen, weil die Nichtberücksichtigung freiwilliger Vorauszahlungen gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Zwar ist anzuerkennen, daß die Sollverzinsung einfacher durchführbar ist als die auf die Differenz zwischen festgesetzten und tatsächlich gezahlten Steuerbeträgen abstellende Istverzinsung. Dennoch widerspricht die Nichtberücksichtigung freiwilliger Vorauszahlungen dem Grundgedanken des § 233a AO 1977, nur solche Liquiditätsvorteile des Steuerpflichtigen abzuschöpfen, zu denen es durch die späte Festsetzung kommt (vgl. BTDrucks 11/2157 S. 194; 8/1410 Tz. 4). Freiwillige Vorauszahlungen lassen derartige Liquiditätsvorteile entfallen. Damit geht es im Kern um die Frage, ob der Gedanke der Vereinfachung die Nichtberücksichtigung freiwilliger Vorauszahlungen rechtfertigt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 419637

BFH/NV 1994, 445

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