Leitsatz

Bei der Beurteilung, ob ein Pflegekindschaftsverhältnis gegeben ist, bedarf es der Feststellung eines "familienähnlichen Bands" auch dann, wenn ein "familiäres Band" besteht. Die Erbringung umfänglicher Pflege- und Unterstützungsleistungen und ein damit verbundenes hohes Maß an persönlicher Zuwendung gegenüber dem behinderten Menschen genügt für die Annahme eines familienähnlichen Bandes nicht.

 

Sachverhalt

Die Klägerin war die Schwester eines im Jahr 2018 verstorbenen schwerbehinderten (GdB 100) Mannes. In seinem Schwerbehindertenausweis waren unter anderem die Merkzeichen "G" und "H" eingetragen. Es war ferner vermerkt, dass die Notwendigkeit ständiger Begleitung bestand. Die Klägerin übernahm nach dem Tod der Mutter die Betreuung ihres Bruders und wurde auch zur gesetzlichen Betreuerin ihres Bruders bestellt. Der Antrag der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld für ihren Bruder wurde von der Familienkasse abgelehnt. Den Einspruch der Klägerin wies die Familienkasse als unbegründet zurück. Danach hat das FG die Familienkasse verurteilt, der Klägerin Kindergeld ab Juni 2017 zu bewilligen. Der BFH hat das Urteil des FG aufgehoben, Gerichtsbescheid v. 17.3.2020, III R 9/19, BFH/NV 2021 S. 4 und die Rechtssache an das FG zurückverwiesen. Im zweiten Rechtsgang sei aufzuklären, ob die Behinderung so schwer war, dass der Zustand des Bruders dem typischen Entwicklungsstand einer noch minderjährigen Person entsprach. Nach Auffassung des BFH seien Feststellungen zu treffen, die auf eine Erziehungsfunktion der Klägerin und ein Autoritätsverhältnis zu ihr schließen lassen.

 

Entscheidung

Im Streitfall ging das FG nach den Gesamtumständen des Falles davon aus, dass zwischen der Klägerin und ihrem schwerbehinderten Bruder, dessen geistiger Zustand dem typischen Entwicklungsstand einer noch minderjährigen Person entsprach, ein familienähnliches Band bestanden hat und der Schwester daher Kindergeld für ihren Bruder als Pflegekind zustand.

Das FG ist der Überzeugung, dass der Bruder in den Haushalt der Klägerin aufgenommen war und dieser den Mittelpunkt der gemeinsamen Lebensinteressen bildete. Die Beweisaufnahme habe bestätigt, dass die Aufenthalte des Bruders in der Wohnung der Klägerin keine bloßen Besuche darstellten, sondern von einer selbstverständlichen Regelmäßigkeit geprägt waren. Eine den Besuchscharakter überschreitende Dauer läge auf jeden Fall bei einem Aufenthalt von insgesamt mehr als drei Monaten pro Jahr vor. Diese Voraussetzung sei im Streitfall erfüllt.

 

Hinweis

Nach Auffassung des FG steht der Umstand, dass es mittlerweile nicht mehr dem wissenschaftlichen Standard im Umgang mit behinderten erwachsenen Menschen entspricht, diese – wie Kinder – "zu erziehen", der Annahme eines "familienähnlichen Bands" im Sinne von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG nicht entgegen. Die Entscheidung des FG ist rechtskräftig.

 

Link zur Entscheidung

FG des Saarlandes, Urteil v. 25.02.2021, 2 K 1395/20

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