Rz. 55

Die Grundprinzipien, die sich aus der 1. und 2. EWG-Richtlinie ergaben, wurden durch die 6. EWG-Richtlinie[1] weitgehend konkretisiert. Die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sind Teil der Unionsrechtsordnung. Sie müssen von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Gemeinschaftsrichtlinien einräumen, beachtet werden. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es zwar im Allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen; dies kann aber ausnahmsweise dann anders sein, wenn ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist.[2]

Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen. Nach diesem Grundsatz müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen. Diese Verpflichtung besteht für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Entscheidungen treffen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbaren Unionsvorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen.[3] Dieser allgemeine Grundsatz ist auch in Situationen anzuwenden, in denen ein Mitgliedstaat Steuerprüfungen bei Steuerpflichtigen durchführt, um seine sich aus der Anwendung des Unionsrechts ergebende Verpflichtung zu erfüllen, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten MwSt zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen. In Verwaltungsverfahren zur Überprüfung und Festlegung der Bemessungsgrundlage für die MwSt muss es dem Einzelnen möglich sein, auf Antrag Zugang zu den Informationen und Dokumenten zu erhalten, die in der Verwaltungsakte enthalten sind und die von der Behörde für den Erlass ihrer Entscheidung berücksichtigt werden, es sei denn, eine Beschränkung des Zugangs zu diesen Informationen und Dokumenten ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt.[4]

 

Rz. 56

Im Neutralitätsgrundsatz kommt der Grundsatz der Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich zum Ausdruck, der es verbietet, dass vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist. Während ein Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz nur zwischen konkurrierenden Unternehmern in Betracht kommt, kann ein Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung im Steuerbereich durch andere Arten der Diskriminierung gekennzeichnet sein, die Unternehmer betreffen, die nicht zwangsläufig miteinander konkurrieren, aber sich trotzdem in einer in anderer Beziehung vergleichbaren Situation befinden. Daraus folgt, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung auf steuerlichem Gebiet nicht mit dem umsatzsteuerlichen Neutralitätsgrundsatz deckungsgleich ist.[5]

 

Rz. 57

Unterschiedliche Verjährungs- oder Klagefristen für zivilrechtliche Ansprüche einerseits und steuerrechtliche Ansprüche andererseits sind nach dem Unionsrecht grundsätzlich zulässig. Der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, stellt eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zu erstatten.[6] Auch ist der Grundsatz der Effektivität nicht verletzt, wenn für die Finanzverwaltung eine angeblich günstigere nationale Verjährungsfrist gilt als für den Einzelnen. Eine nationale Behörde kann sich aber dann nicht auf den Ablauf einer angemessenen Verjährungsfrist berufen, wenn das Verhalten der nationalen Behörden i. V. m. einer Verjährungsfrist dem Betroffenen jede Möglichkeit nimmt, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen.[7] Der Grundsatz der Effektivität steht einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer nicht bestehenden MwSt-Schuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung (die der Leistungsempfänger gegen den leistenden Unternehmer erhebt) vorsieht, als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage (die der leistende Unternehmer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt) nicht entgegen, wenn der Unternehmer die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist aber dann nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Unternehmer das Recht, die nicht geschuldete MwSt, die er selbst dem Leistungsempfänger erstatten musste, von der ...

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