Rz. 155

Der Vorsteuerabzug ist zeitlich unabhängig von entsprechenden Umsätzen des Unternehmers. Es gilt das schon in Rz. 102 erläuterte Prinzip des Sofortabzugs. Zur Einschränkung beim Leistungsempfänger im Fall der Ist-Versteuerung durch den leistenden Unternehmer s. das in Rz. 102a erwähnte EuGH-Urteil v. 10.2.2022.[1] Die Berechtigung zum Vorsteuerabzug besteht auch, wenn noch keine Umsätze ausgeführt werden. Andererseits kann es vorkommen, dass für einen Voranmeldungszeitraum keine USt auf Vorleistungen an das Unternehmen angefallen sind. Auf längere Sicht gleicht sich dies aus.

 
Praxis-Beispiel
  • Der Unternehmer A eröffnet am 1.7.01 eine mechanische Strickerei. In den Monaten Juli und August des Jahres 01 schafft er die Geschäftseinrichtung sowie Roh- und Betriebsstoffe an und beginnt mit der Herstellung von Strickwaren. Die ersten Umsätze gegenüber Dritten werden erst im September 01 ausgeführt. A kann dennoch schon in den Voranmeldungen für Juli und August 01 die ihm in Rechnung gestellten Vorsteuern geltend machen.
  • A hat sich so reichlich mit Rohstoffen versorgt, dass er im September 2013 keine Einkäufe zu tätigen braucht, sodass in diesem Voranmeldungszeitraum – wenn man von anderen Vorumsätzen absieht – keine Vorsteuern zur Verrechnung anstehen. Der Vorsteuerabzug für die den Septemberumsätzen entsprechenden Einkäufe konnte bereits in den vorangehenden Voranmeldungszeiträumen vorgenommen werden.
 

Rz. 156

Unter Bezugnahme auf das in Rz. 155 erwähnte EuGH-Urteil v. 29.4.2004 hat der BFH[2] am 13.5.2009 entschieden, dass bei einem Wechsel des Organträgers infolge einer Veräußerung der Anteile an der Organgesellschaft dem neuen Organträger der Vorsteuerabzug aus einer Rechnung für Bezüge der Organgesellschaft vor dem Organträgerwechsel nicht zusteht. Der BFH begründet dies damit, dass auch bei Beendigung der Organschaft sich die Berechtigung zum Vorsteuerabzug nach den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsbezugs richten muss. Insofern sei zwischen der Entstehung des Rechts auf den Vorsteuerabzug und dem Zeitpunkt der Ausübung dieses Rechts zu unterscheiden, entsprechend dem EuGH-Urteil v. 29.4.2004. Im BFH-Fall war also der frühere Organträger der Leistungsempfänger. Dass ihm die Rechnung erst nach dem Wechsel der Organträgerschaft zuging, hat keinen Einfluss auf seine materielle Berechtigung zum Vorsteuerabzug aus der Zeit, in der er noch Organträger war. Die Rechnung ist so gesehen nur akzessorisch zum Leistungsbezug. Nur diese Betrachtung entspricht dem Neutralitätsgrundsatz. Bemerkenswert an diesem Fall ist auch, dass der neue Organträger den Vorsteuerabzug geltend machte, obschon dieser dem früheren Organträger – zu Recht – schon vom FA gewährt worden war. Zweimal kann es den Vorsteuerabzug aber nicht geben.

 

Rz. 157

Auch bei Beginn der Unternehmertätigkeit ist der Vorsteuerabzug nicht von der erstmaligen Bewirkung von Umsätzen abhängig, weil Vorbereitungshandlungen bereits zur unternehmerischen Tätigkeit zählen.[3] Der Unternehmer muss aber in diesen Fällen vorab prüfen, inwieweit ggf. der Vorsteuerabzug deshalb eingeschränkt ist, weil die Vorumsätze späteren, den Abzug ausschließenden Umsätzen i. S. d. § 15 Abs. 2 UStG zuzurechnen sind. In diesem Falle ist auch sofort darüber zu entscheiden, ob beim Vorliegen von steuerfreien Umsätzen i. S. d. § 4 Nr. 8 Buchst. a-g und k, Nr. 9 Buchst. a, Nr. 12, 13 oder 19 UStG auf die Steuerbefreiung durch Option gem. § 9 UStG verzichtet werden soll. Die Voraussetzungen hierfür hat der Unternehmer dem FA bei der Vornahme des Vorsteuerabzugs so darzulegen, dass sie z. B. anhand von Mietverträgen u. Ä. objektiv nachprüfbar sind. Abschn. 15.12 Abs. 2 UStAE verfügt dazu lakonisch, aber rechtsstaatlich nicht zu beanstanden: "Behauptungen reichen nicht aus". Ändern sich später die bei dieser Entscheidung vorliegenden Verhältnisse, ist der Vorsteuerabzug rückgängig zu machen[4] und nicht nach § 15a UStG zu berichtigen.

 

Rz. 158

Problematisch sind die nicht seltenen Fälle, in denen trotz entsprechender Vorbereitungshandlungen, die mit Vorsteuern belastet sind, später keine Umsätze bewirkt werden können. Das sind die sog. Fehlmaßnahmen oder die Aktivitäten des erfolglosen Unternehmers.

 

Rz. 159

Obwohl man schon aus dem Urteil des EuGH v. 14.2.1985[5] durchaus eine gewisse Tendenz zur Belassung des Vorsteuerabzugs auch in den Fällen hätte herauslesen können, in denen es trotz ernsthafter Bemühungen im Anschluss an die Vorbereitungshandlungen nicht zu Umsätzen, die steuerpflichtig wären, kommt, verfestigte sich in Deutschland, aber offenbar auch in anderen EU-Mitgliedstaaten, aus dem an sich zutreffenden Satz, dass es einen Unternehmer ohne Umsätze nicht geben kann, die Folgerung, dass der Vorsteuerabzug rückgängig zu machen sei, wenn es nicht zu Umsätzen kommt. Der BFH[6] hat in dem Urteil v. 6.5.1993 entschieden, dass der Vorsteuerabzug aus Vorbereitungshandlungen materiell-rechtlich nur vorläufig in Anspruch genommen werden könne. Kommt es später nicht nachhaltig zur Ausfüh...

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