1 Allgemeines

 

Rz. 1

§ 96 FGO ist eine der grundlegenden Vorschriften für das finanzgerichtliche Verfahren.[1] Die Norm regelt, innerhalb welcher Grenzen[2] das Gericht den Sachverhalt zu ermitteln, mit welchem Grad von Gewissheit das Gericht seine Entscheidung über den zugrunde zu legenden Sachverhalt zu treffen[3] und dass das Gericht den Beteiligten die maßgebenden Gründe anzugeben hat.[4] Des Weiteren legt die Vorschrift den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör für das finanzgerichtliche Verfahren fest.[5]

 

Rz. 2

Die historisch bedingte[6] Fassung der Vorschrift ist missglückt. Systematisch sinnvoll wäre es, zunächst die Bindung des Gerichts an das Klagebegehren zu regeln, da dieses den Streitstoff bestimmt. Erst danach folgt die Überzeugungsbildung des Gerichts im Rahmen der freien Beweiswürdigung, wobei der Grundsatz des rechtlichen Gehörs zu beachten ist.[7] Die Begründungspflicht des Urteils ist zeitlich nach der Überzeugungsbildung zu beachten.[8] In der Praxis sind allerdings diese einzelnen Verfahrensabschnitte nicht klar voneinander abzugrenzen, da Wechselwirkungen der Ergebnisse einzelner Schritte untereinander entstehen.[9] Das Gericht kann je nach zwischenzeitlichen Ergebnissen auch wieder zu einer vorhergehenden Stufe gehen.

Die folgende Kommentierung richtet sich trotz dieser missglückten Systematik – anders als die Vorkommentierung – nach der von dem Gesetz vorgegebenen Reihenfolge.

[1] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 10.
[2] "Klagebegehren", § 96 Abs. 1 S. 2 FGO.
[3] "Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens", § 96 Abs. 1 S. 1 FGO.
[4] "Begründungspflicht", § 96 Abs. 1 S. 3 FGO.
[6] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 1ff.
[7] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 11.
[8] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 14; vgl. auch Stapperfend, in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 96 FGO Rz. 2.
[9] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 1.

2 Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, § 96 Abs. 1 S. 1 FGO

2.1 Gesamtergebnis des Verfahrens

 

Rz. 3

Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 96 Abs. 1 S. 1 FGO). Unter Gesamtergebnis des Verfahrens sind sämtliche tatsächlichen, nicht jedoch die rechtlichen[1] Entscheidungsgrundlagen zu verstehen.[2] § 96 Abs. 1 S. 1 FGO bezieht sich auf Tatsachen und ggf. Beweisergebnisse.[3] Zu ermitteln und ggf. zu beweisen sind daher die Tatsachen, die im Tatbestand der entsprechenden anzuwendenden Rechtsnorm genannt sind.

 

Rz. 4

Gesamtergebnis des Verfahrens ist der gesamte entscheidungserhebliche tatsächliche Prozessstoff, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung oder des schriftlichen Verfahrens war.[4] Dieser ergibt sich nicht nur aus dem Ergebnis einer förmlichen Beweisaufnahme, sondern auch aus dem Vortrag (einschließlich rechtzeitig eingegangener nachgelassener Schriftsätze) und dem prozessualen Verhalten (Mitwirkungspflichten) der Beteiligten sowie aus dem Inhalt sämtlicher vorliegenden Akten, jeweils nachdem die Beteiligten sich dazu äußern konnten (rechtliches Gehör). Der Umfang des Gesamtergebnisses des Verfahrens wird dabei durch das Klagebegehren, die Ermittlungsarbeit des Gerichts und die Mitwirkung der Beteiligten[5] bestimmt.

 

Rz. 5

Das FG verstößt gegen § 96 Abs. 1 S. 1 FGO, wenn es seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht oder wenn es eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat und die angefochtene Entscheidung darauf beruht.[6] Das FG hat den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen. Zwar muss es in seinem Urteil nicht auf jede Einzelheit des Sachverhalts und des Beteiligtenvortrags ausdrücklich eingehen, da davon auszugehen ist, dass das Gericht auch den Akteninhalt in seine Überlegungen einbezieht, mit dem es sich nicht ausdrücklich auseinandersetzt. Es verletzt jedoch seine Pflicht zur vollständigen Berücksichtigung des Streitstoffs, wenn es einen bestimmten Tatsachenvortrag erkennbar unberücksichtigt lässt, obwohl dieser auf der Basis seiner materiell-rechtlichen Auffassung entscheidungserheblich sein kann.[7]

 

Rz. 6

Ausnahmsweise dürfen solche Tatsachen vom Gericht nicht verwertet und in die Urteilsbegründung eingefügt werden, von denen das Gericht zwar Kenntnis erlangt hat, die aber etwa wegen des entgegenstehenden Steuergeheimnisses nicht allen Beteiligten zugänglich gemacht worden sind.[8] Des Weiteren zählen Tatsachen und Beweismittel, die präkludiert sind[9], nicht zum Gesamtergebnis des Verfahrens.[10]

[1] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 2; Stapperfend, in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 96 FGO Rz. 10.
[3] Lange, in HHSp, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 20.
[4] Seer, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 96 FGO Rz. 9ff.; Stapperfend, in Gräber, FGO, 7. Aufl. 2010, § 96 FGO Rz. 10ff.

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