Rz. 21

Ein sog. vorgeprägtes oder intendiertes Ermessen liegt vor, wenn das Ermessen in eine bestimmte Richtung vorgeprägt ist, d. h. die das Ermessen einräumende Vorschrift für den Regelfall von einer Ermessensausübung in einem bestimmten Sinne ausgeht und besondere Gründe vorliegen müssen, um eine abweichende Entscheidung zu rechtfertigen.[1] Für den Regelfall ist hier die Richtung der Ermessensbetätigung bereits durch die ermessenseinräumende Vorschrift vorgezeichnet. Eine an diesem Regelfall orientierte Ermessensentscheidung ist nur rechtsfehlerhaft, wenn der Behörde außergewöhnliche Umstände bekannt geworden oder erkennbar sind, die eine andere Entscheidung möglich erscheinen lassen und die Behörde diese Umstände nicht erwogen hat.[2]

 

Rz. 22

Ein vorgeprägtes (intendiertes) Ermessen ist regelmäßig bei sog. Soll-Vorschriften[3] gegeben und kann auch vorliegen, wenn nach der Gesetzesregelung "regelmäßig"[4] eine bestimmte Rechtsfolge eintreten soll. Eine Vorprägung des Ermessens wird ferner angenommen für die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts gem. § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO[5], für das Auswahlermessen bezüglich eines Haftungsbescheids bei mehreren Haftungsschuldnern, in Fällen der vorsätzlichen Pflichtverletzung oder Steuerhinterziehung einschließlich der Beihilfe[6], für das Entschließungsermessen betr. Erlass einer Teileinspruchsentscheidung nach § 367 Abs. 2a AO[7] oder die Entscheidung über die Abzweigung von Kindergeld gem. § 74 Abs. 1 EStG.[8] Ob einer ermessensbegründenden Vorschrift eine Vorprägung des Ermessens entnommen werden kann, ist unter Berücksichtigung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze zu entscheiden.[9]

 

Rz. 23

Praktische Bedeutung hat das vorgeprägte bzw. intendierte Ermessen insbesondere im Hinblick auf die reduzierte verfahrensrechtliche Pflicht der Behörde zur Begründung der Ermessensentscheidung. Übt die Behörde ihr Ermessen entsprechend der vorgeprägten Ermessensentscheidung aus, bedarf es insoweit keiner Begründung der Ermessensbetätigung.[10] Erforderlich ist eine weitergehende Begründung nur bei Anhaltspunkten für das Vorliegen eines Ausnahmefalls. Die irrige Annahme eines vorgeprägten Ermessens ist ein Ermessensfehler.[11]

 

Rz. 24

Die sowohl an der Rechtsfigur des vorgeprägten (intendierten) Ermessens als auch den der Verwaltung insoweit zugestandenen Begründungserleichterungen geübte Grundsatzkritik[12] ist überzogen. Dem durch diese Rechtsfigur beschworenen Schematismus des finanzbehördlichen Entscheidungsverhaltens steht entgegen, dass die Vorprägung des Ermessens eine klare Fundierung im Zweck der gesetzlichen Ermessensermächtigung voraussetzt und der Handlungsspielraum der Verwaltung auch keine grundsätzliche Einschränkung erfährt. Angesichts der durch § 121 Abs. 2 Nr. 2 AO normierten Begründungserleichterungen und der sich aus § 127 AO ergebenden Unbeachtlichkeit von Begründungsmängeln dürften sich auch keine grundsätzlichen Einwände gegen die Erleichterung der Begründungspflicht rechtfertigen.[13]

[3] Vgl. oben Rz. 16.
[12] Z. B. Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 13f.; Gräber/Stapperfend, FGO, 9. Aufl. 2019, § 102 Rz. 5; zurückhaltender Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 5 AO Rz. 138ff; BeckOK AO/Wagner, § 5 AO Rz. 23ff.
[13] Ebenso Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 5 AO Rz. 142; einschränkend Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 Rz. 14.

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