1 Überblick über den Regelungsinhalt des § 371 AO

 

Rz. 1

Die Gesetzesüberschrift des § 371 AO "Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung" spiegelt den Regelungsinhalt nur unvollkommen wieder. Die Überschrift und der Gesetzessprachgebrauch eröffnen die Möglichkeit vielfältiger Missverständnisse. In § 371 AO werden unter der Überschrift "Selbstanzeige" zwei völlig unterschiedliche Regelungsbereiche mit unterschiedlichem Rechtscharakter miteinander verbunden:

  • Zum einen werden in § 371 Abs. 1 bis 3 AO Regelungen zur eigentlichen strafbefreienden "Selbstanzeige" des an einer Steuerhinterziehung nach § 370 AO Tatbeteiligten getroffen[1].
  • Zum anderen wird in § 371 Abs. 4 AO der Fall einer die Strafverfolgung hindernden "Fremdanzeige" geregelt, die von einem nicht an der Tat Beteiligten mit strafrechtlicher Wirkung für einen tatbeteiligten Dritten erstattet wird[2].
[1] Rz. 1a -178.
[2] Rz. 179–192.

2 Strafbefreiende "Selbstanzeige" nach § 371 Abs. 1–3 AO

2.1 Grundlagen

2.1.1 Allgemeines

 

Rz. 1a

Im Hinblick auf die strafbefreiende Wirkung der "Selbstanzeige" (Rz. 16) ist § 371 AO für die rechtsanwendende Praxis wohl die wichtigste Vorschrift des Steuerstrafrechts. Diese Rechtswirkung der "Selbstanzeige" knüpft das Gesetz an drei ausschließlich objektive Merkmale (Rz. 3b), die zusammen erfüllt sein müssen:

  • Eine "Selbstanzeigeerklärung" (Rz. 27) wird abgegeben.
  • Ein Ausschlussgrund (Rz. 62) liegt nicht vor.
  • Die Nachentrichtungspflicht (Rz. 122) wird erfüllt.
 

Rz. 1b

Die Ausnahmeregelung des § 371 AO lässt die allgemeinen strafrechtlichen Regelungen unberührt[1]. Unabhängig von § 371 AO kann Straffreiheit demgemäß auch durch den Rücktritt vom Versuch der Steuerstraftat erlangt werden[2].

 

Rz. 1c

Sonderregelungen zu § 371 AO ergeben sich für die

  • "Selbstanzeige" einer leichtfertigen Steuerverkürzung in § 378 Abs. 3 AO[3],
  • "Strafbefreiende Erklärung" von Einkünften aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen durch das "Steueramnestie-Gesetz" gem. Art. 17 Steuerreformgesetz 1990 v. 25.7.1988[4] bis zum 31.12.1990,
  • "Strafbefreiende Erklärung" durch das Strafbefreiungserklärungsgesetz v. 23.12.2003[5] bis zum 31.12.2004[6].
[2] BGH v. 19.3.1991, 5 StR 516/90, wistra 1991, 223; BFH v. 5.5.2004, 5 StR 548/03, NJW 2005, 2720, 2721; § 369 AO Rz. 45; s. z. B. für die Steuerhinterziehung § 370 AO Rz. 138.
[3] Erl. zu § 378 AO.
[4] BGBl I 1988, 1093.
[5] BGBl I 2004, 22.
[6] Anh. zu § 371 AO

2.1.2 Zweck der "Selbstanzeige"

 

Rz. 2

Die "Selbstanzeige" ist eine steuerstrafrechtliche Besonderheit des deutschen Strafrechts[1], weil bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 371 Abs. 1–3 AO Straffreiheit bei beendeter Straftat gewährt wird. Hierin liegt der gesetzliche Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch. Deswegen wird die Regelung verschiedentlich auch als "permanente Amnestie" bezeichnet[2]. Da der Eintritt der Straffreiheit noch von der Nachentrichtung abhängig ist (Rz. 122), handelt es sich inhaltlich um einen gesetzlichen Ablass steuerstrafrechtlicher Sünden bei Ausgleich des fiskalischen Nachteils.

 

Rz. 3

Die Gewährung der strafbefreienden Wirkung wird überwiegend aus steuerpolitischen Erwägungen gerechtfertigt[3]. Wesentlicher Gesichtspunkt ist hierbei die Erschließung einer dem Fiskus bisher unbekannten Steuerquelle. Der durch die Nachentrichtung bewirkte fiskalische Vorteil wird danach auch von der höchstrichterlichen Rspr. als Zweck der Strafbefreiung angesehen[4].

Demgegenüber wird z. T. dem kriminalpolitischen und strafrechtlichen Aspekt der Regelung die größere Bedeutung eingeräumt, also einen Anreiz für die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit und gesetzmäßigem Verhalten zu geben, bei Wiedergutmachung des verwirklichten Steuerschadens[5].

Der BGH[6] vertritt die Auffassung, dass die in dem Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch (Rz. 16) liegende Privilegierung des Steuerstraftäters gegenüber anderen Straftätern nur dadurch gerechtfertigt ist, wenn neben der Erschließung der verborgenen Steuerquelle auch die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit gegeben ist. Dieser Rückkehr kommt nach Ansicht des BGH[7] heutzutage mehr Gewicht zu, als dem fiskalischen Zweck der Erschließung unbekannter Steuerquellen.

[1] Abramowski, DStZ 1992, 300 zum internationalen Vergleich.
[2] Horn, INF 1983, 134, 135.
[3] Rüping, in HHSp, AO/FGO, § 371 AO Rz. 17 m. w. N.; Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 371 AO Rz. 23; Jäger, in Klein, AO, 10. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 1, 4; Kemper, in Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 371 AO Rz. 2f.; Scheurmann-Kettner, in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl. 1996, § 371 AO Rz. 3.
[4] BGH v. 11.11.1958, 1 StR 370/58, BGHSt 12, 101; BGH v. 5.9.1974, 4 StR 369/74, NJW 1974, 2293; BayObLG v. 3.11.1989, RReg 4 St 135/89, wistra 1990, 159, 162; BGH v. 16.6.2005, 5 StR 118/05, BFH/NV Beilage 2005, 380.
[5] Joecks, in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl. 2009, § 371 AO Rz. 22; Blesinger, in Kühn/v. Wedelstädt, AO/FGO, 19. Aufl. 2008, § 371 AO Rz. 1.

2.1.3 Auslegung der Norm

 

Rz. 3a

Die Auslegung des § 371 AO wird maßgeblich durch die Bestimmung dessen Zwecks ...

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