Rz. 26

Die Finanzbehörde hat nach § 367 Abs. 2 S. 1 AO die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen. Das finanzbehördliche Einspruchsverfahren dient auch der Selbstkontrolle der Finanzbehörde. Die Verpflichtung zur vollständigen Nachprüfung soll fehlerhafte Rechtsanwendung sowohl zuungunsten als auch zugunsten des Einspruchsführers korrigieren. Die vollständige Nachprüfungspflicht hat damit die Konsequenz, dass der angefochtene Verwaltungsakt in der Einspruchsentscheidung auch zum Nachteil des Einspruchsführers geändert werden kann.

Diese Möglichkeit zur Verböserung verletzt weder den Grundsatz von Treu und Glauben noch verstößt sie gegen das Rechtsstaatsprinzip[1], sie versetzt vielmehr die Verwaltung in die Lage, die ihr in § 85 AO gestellte Aufgabe, Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben, erfüllen zu können.

§ 367 Abs. 2 S. 2 AO ist demgemäß nicht die Rechtsgrundlage für die Verböserung, sondern regelt nur deren verfahrensmäßige Abwicklung im Einspruchsverfahren und eröffnet dem Einspruchsführer die Möglichkeit, diese zu verhindern.[2]

Da durch die Einspruchseinlegung die Festsetzungsverjährung gemäß § 171 Abs. 3a S. 2 AO in vollem Umfang gehemmt wird, hindert der Eintritt der regulären Festsetzungsverjährung die Verböserung nicht.[3]

 

Rz. 26a

Nach dem Wortlaut des § 367 Abs. 2 S. 2 AO besteht die Verböserungsbefugnis gegenüber dem Einspruchsführer. Gegenüber einem zum Einspruchsverfahren Hinzugezogenen[4] ist eine verbösernde Entscheidung nur zulässig, wenn über den Streitpunkt zwangsläufig nur einheitlich entschieden werden kann, weil sich die Entscheidung notwendigerweise auf alle Feststellungsbeteiligten auswirkt.[5]  Es muss also ein Fall der notwendigen Hinzuziehung nach § 360 Abs. 3 AO vorliegen und diese muss auch erfolgt sein.[6]

 

Rz. 27

Aufgrund der Verpflichtung zur Steuerfestsetzung nach Maßgabe der Gesetze steht die Verböserung – trotz des Wortlauts des § 367 Abs. 2 S. 2 AO ("kann") – auch nicht im Ermessen der Finanzbehörde, sondern sie hat die Rechtspflicht zur Verböserung.[7]  Das pflichtwidrige Unterlassen der Verböserung durch die Finanzbehörde ist ein Verstoß gegen die vollständige Nachprüfungspflicht. Ein solcher Verstoß bewirkt aber keine Einschränkung der finanzbehördlichen Befugnis zur Korrektur des angefochtenen Verwaltungsakts nach den allgemeinen Korrekturbestimmungen. Die durch die Einspruchseinlegung begründete Verböserungsbefugnis ist eine selbstständige Rechtsgrundlage für eine Korrektur des angefochtenen Verwaltungsakts. Sie hat auf die Zulässigkeit der Korrektur des angefochtenen Verwaltungsakts nach anderen gesetzlichen Bestimmungen keinen Einfluss.[8]  Die Prüfungspflicht im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 S. 1 AO bewirkt keine abschließende sachliche Entscheidungspflicht, sodass bei der im Einzelfall jeweils anzuwendenden Korrekturbestimmung zu prüfen ist, ob nach deren Voraussetzungen durch eine vorausgegangene Sachentscheidung im Einspruchsverfahren die weitere Korrektur ausgeschlossen ist.

 

Rz. 28

Die durch die Einspruchseinlegung begründete Pflicht zur Verböserung ist eine eigenständige Korrekturregelung im Einspruchsverfahren.[9]  Für die Verböserung des mit dem Einspruch angefochtenen Verwaltungsakts im finanzbehördlichen Einspruchsverfahren ist es demgemäß nicht erforderlich, dass die Voraussetzungen einer allgemeinen Korrekturvorschrift vorliegen.

Erfolgt aufgrund des für die Verböserung erforderlichen Hinweises die Rücknahme des Einspruchs, so kann die Finanzbehörde den damit i. d. R. bestandskräftigen Verwaltungsakt nur noch im Rahmen der allgemeinen Korrekturvorschriften verbösern. Dies wird durch § 367 AO nicht ausgeschlossen.[10]

§ 367 Abs. 2 S. 2 AO zwingt die Finanzbehörde nicht, die Korrektur des angefochtenen Verwaltungsakts nach den allgemeinen Korrekturvorschriften stets außerhalb des Einspruchsverfahrens vorzunehmen. Der Korrekturbescheid würde gemäß § 365 Abs. 3 AO ohnehin Gegenstand des Einspruchsverfahrens, sodass die Finanzbehörde die Korrektur nach den allgemeinen Korrekturbestimmungen auch im Rahmen der Einspruchsentscheidung vornehmen kann. Behördeninterne Zuständigkeiten für die allgemeine Steuerveranlagung einerseits und die Bearbeitung von Einsprüchen andererseits hatten auf die Rechtmäßigkeit der Korrektur keinen Einfluss.[11]

 

Rz. 28a

Eine Verböserung i. S. v. § 367 Abs. 2 S. 2 AO liegt demgemäß grundsätzlich bei jeder für den Einspruchsführer nachteiligen Änderung des Regelungsinhalts des mit dem Einspruch angefochtenen Verwaltungsakts in der Einspruchsentscheidung. Die Zurückweisung des Einspruchs als unzulässig oder als unbegründet ist keine Verböserung i. d. S.[12] Eine Änderung i. d. S. ist auch die Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsakts.[13]

Der Umfang der Verböserung ergibt sich aus dem angefochtenen Verwaltungsakt. Ist dies ein Änderungsbescheid, der einen bestandskräftigen Verwaltungsakt ändert, so findet § 351 Abs. 1 AO Anwendung.[14]  Es kann die Regelung des ursprünglichen, bestandskräftigen Ve...

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