Rz. 56

Die Mitwirkungspflichten im Steuerstraf- bzw. Bußgeldverfahren und im Verwaltungsverfahren wegen Steuersachen sind unterschiedlich gestaltet. Kennzeichnend für das Straf- und Bußgeldverfahren ist der Grundsatz, dass ein Beschuldigter bzw. Betroffener nicht verpflichtet ist, sich selbst zu belasten, und er sich demgemäß sanktionslos jeder Mitwirkung im Verfahren enthalten kann.[1] Im Besteuerungsverfahren ist dagegen der Beteiligte im Interesse einer möglichst vollständigen und gleichmäßigen Besteuerung[2] grundsätzlich nach § 90 Abs. 1 S. 1 AO zur Mitwirkung verpflichtet.[3] Nach h. M. besteht diese steuerliche Mitwirkungspflicht auch, wenn er sich selbst einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit bezichtigen müsste.[4] Aus dieser verfahrensbedingten unterschiedlichen Gestaltung der Mitwirkungspflichten ergibt sich die außerordentliche Bedeutung für die Bestimmung des Rechtscharakters der einzelnen Ermittlungshandlung. Hierbei ist zu differenzieren.

 

Rz. 57

Ist gegen den Beteiligten des Besteuerungsverfahrens zugleich ein Steuerstraf- bzw. -bußgeldverfahren anhängig, so ergibt sich für ihn, weil gem. § 393 Abs. 1 S. 1 AO – der nach § 208 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 AO auch im Verfahren der Fahndung gilt – durch die gleichzeitige Anhängigkeit beider Verfahren die Rechte und Pflichten des Beteiligten in dem jeweiligen Verfahren nicht beeinflusst werden, eine Konfliktsituation hinsichtlich der Mitwirkungspflichten. Unter Beachtung des strafrechtlichen Grundsatzes, dass sich niemand einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit bezichtigen muss[5], versucht § 393 Abs. 1 S. 2, 3 AO, diesen Konflikt dadurch zu lösen, dass bei Anhängigkeit des Straf- bzw. Bußgeldverfahrens, d. h. also nach deren Einleitung[6], die Erfüllung der steuerlichen Mitwirkungspflichten durch die Finanzbehörde nicht mehr erzwungen werden kann. Die Anwendung von Zwangsmitteln[7] ist nach der Einleitung in dem Umfang der Einleitung stets ausgeschlossen. Bei Anhängigkeit beider Verfahren bestehen die steuerlichen Mitwirkungspflichten nur noch dem Grunde nach, denn die formale Existenz der steuerlichen Pflichten ist nur deshalb von Bedeutung, weil dies Voraussetzung für eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO durch die Finanzbehörde ist.[8]

Durch die Anhängigkeit des Straf- bzw. Bußgeldverfahrens ergibt sich also faktisch ein Mitwirkungsverweigerungsrecht.[9] Nach § 397 Abs. 3 AO ist dem Beschuldigten die Einleitung des Straf- bzw. Bußgeldverfahrens spätestens dann mitzuteilen, wenn er zur Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung aufgefordert wird. Diese Informationspflicht entfällt nicht dadurch, dass nunmehr nach § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 AO unter Inanspruchnahme steuerlicher Vorschriften (s. Rz. 19, 20, 25, 26) ermittelt wird.[10]

 

Rz. 58

Wird von der Fahndung nach § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO in "unbekannten Steuerfällen" bei einem bekannten Stpfl. ermittelt (s. Rz. 48), so sind diese Ermittlungen nur zulässig, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Steueranspruch nicht richtig festgesetzt oder ein Steuervorteil unberechtigt erlangt worden ist (s. Rz. 39, 49). Dann ist zugleich ein straf- bzw. bußgeldrechtlich zu ahndendes Verhalten nicht ausgeschlossen (s. Rz. 47).

Die Mitwirkungspflicht des Stpfl., bei dem ein strafrechtlich relevantes Verhalten möglich erscheint, kollidiert mit dem strafprozessualen Grundsatz, dass niemand gezwungen werden darf, sich eines straf- oder bußgeldrechtlich relevanten Fehlverhaltens selbst zu bezichtigen (s. Rz. 57). Dieser Zwang zur Selbstbezichtigung wäre eine Verletzung des durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Persönlichkeitsrechts.[11] Diese Konfliktsituation zwischen dem Interesse an einer umfassenden Aufklärung und an einem individuellen Schutzbereich wird von der AO nur teilweise gelöst.

Wenn der Stpfl. in Erfüllung seiner steuerlichen Mitwirkungspflicht eine Beteiligung an einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit aufdeckt, die keine Steuerstraftat[12] ist, wird er durch das Verfolgungsverbot des § 393 Abs. 1 AO geschützt, sofern nicht an der Verfolgung ein zwingendes öffentliches Interesse i. S. v. § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO besteht.[13]

Unproblematisch ist die Selbstbezichtigung einer Steuerstraftat oder -ordnungswidrigkeit auch solange, wie sich der Stpfl. in Erfüllung seiner Mitwirkungspflicht der Ahndung dadurch entziehen kann, dass seine Mitwirkung als strafbefreiende bzw. bußgeldhindernde "Selbstanzeige" i. S. d. §§ 371, 378 Abs. 3 AO zu werten ist. Problematisch wird die steuerliche Mitwirkungspflicht nur, soweit die Verfolgungs- bzw. Ahndungsfreiheit nicht schon nach §§ 393 Abs. 2, 371, 378 Abs. 3 AO eintreten kann, wenn also z. B. die Mitwirkungshandlung nicht als hinreichende Materialbeschaffung i. S. v. § 371 Abs. 1 AO angesehen werden kann oder ein Ausschlussgrund nach § 371 Abs. 2 AO vorliegt.[14]

Die Konfliktsituation, dass die Mitwirkungspflicht den Zwang zur Selbstbezichtigung erzeugt, kann nicht dadurch gelöst werden, dass dem Stpfl. im Rahmen der Ermittlungen nach § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO ein...

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