1.1 Durchbrechung der Bestandskraft und Hemmung der Festsetzungsfrist

 

Rz. 1

§ 175a S. 1 AO ermöglicht den Erlass, die Aufhebung oder die Änderung von Steuerbescheiden, soweit dies erforderlich ist, um eine Vorabverständigungsvereinbarung nach § 89a AO, eine Verständigungsvereinbarung oder einen Schiedsspruch aufgrund eines internationalen Streitbeilegungsverfahrens zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung auf der Grundlage einer völkerrechtlichen Vereinbarung nach § 2 AO umzusetzen. Bisher war für diese Fälle für die Durchbrechung der Bestandskraft keine ausdrückliche Rechtsgrundlage vorhanden. Die Verwaltung hatte sich für berechtigt gehalten, auch ohne diese Rechtsgrundlage internationale Verständigungsvereinbarungen und Schiedssprüche ohne Rücksicht auf die Bestandskraft von Bescheiden umzusetzen.[1] Es dient der Rechtssicherheit, wenn nunmehr eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für diese Fälle geschaffen wird.

Zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren in Steuersachen vgl. BMF v. 27.8.2021, IV B 3 – S 1304/21/10004 :007, BStBl I 2021, 1495.

 

Rz. 2

Außer der Durchbrechung der Bestandskraft enthält § 175a S. 2 AO auch eine Ablaufhemmung für die Festsetzungsfrist. Diesbezüglich enthalten die zwischenstaatlichen Vereinbarungen, die den Rang innerstaatlicher Gesetze haben, regelmäßig die Bestimmung, dass Fristen nach nationalem Recht die Umsetzung nicht hindern dürften. Auch insoweit dient § 175a AO mit der klaren Rechtsgrundlage in S. 2 der Rechtssicherheit. S. 2 ist in § 175a AO jedoch systematisch falsch eingeordnet; die Vorschrift hätte in § 171 AO eingefügt werden müssen.

 

Rz. 3

Geltungsgrund für die Durchbrechung der Bestandskraft und die Hemmung der Festsetzungsfrist ist, dass der Stpfl. die Einleitung des Vorabverständigungsverfahrens oder des Verständigungs- oder Schiedsverfahrens veranlasst und, da das Verfahren die Beseitigung einer bei ihm eingetretenen Doppelbesteuerung zum Ziel hat, mit den Wirkungen einverstanden ist. Nach Art. 25 OECD-MA "unterbreitet" der Stpfl. den Fall der zuständigen Behörde, ebenso nach Art. 6 der Schiedskonvention. Nach § 4 Abs. 1 des EU-DBA-Streitbeilegungsgesetzes[2] reicht der Betroffene eine Streitbeilegungsbeschwerde ein und beantragt damit eine Lösung der Streitfrage. Nach § 89a Abs. 1 AO wird das Vorabverständigungsverfahren durch einen Antrag des Stpfl. in Gang gesetzt. Da somit die Einleitung des Verfahrens auf dem Willen des Stpfl. beruht, ist die Änderung der gegen ihn ergangenen Steuerbescheide gerechtfertigt.

 

Rz. 4

§ 175a AO macht es in den Fällen, in denen ein Vorabverständigungsverfahren oder ein internationales Verständigungs- oder Schiedsverfahren eingeleitet wird oder werden soll, überflüssig, gegen die Steuerfestsetzung Einspruch einzulegen oder Klage zu erheben. Jedoch setzt nach deutschem Recht die Einleitung eines Streitbeilegungsverfahrens nicht voraus, dass die Steuer bestandskräftig festgesetzt ist. Die Einleitung eines Streitbeilegungsverfahrens ist daher nach deutschem Recht auch möglich, wenn noch ein Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelverfahren über dieselbe Rechtsfrage schwebt oder der Rechtsweg noch nicht erschöpft ist.[3] Andererseits setzten diese Verfahren nach dem einschlägigen internationalen Vertrag häufig voraus, dass auf nationaler Ebene bereits Bestandskraft eingetreten ist. Internationale Lösungen sollen erst angestrebt werden, wenn die Doppelbesteuerung auf nationaler Ebene nicht gelöst werden kann. Wenn die Einleitung eines Verständigungs- oder Schiedsverfahrens aber Bestandskraft der Steuerfestsetzung voraussetzt, darf diese Bestandskraft der Umsetzung des Verständigungs- oder Schiedsspruchs nicht entgegenstehen.

 

Rz. 5

Wird der Steuerbescheid (auch) aus anderen Gründen angefochten, würde das Erfordernis der Bestandskraft der Steuerfestsetzung dazu führen, die Klärung der streitigen Fragen im Verständigungs- oder Schiedsverfahren u. U. sehr lange, nämlich bis zur Klärung der anderen Fragen im Rechtsbehelfs- oder Gerichtsverfahren, aufzuschieben. Dann könnte die Frist für die Einleitung des Verständigungsverfahrens, nämlich 3 Jahre nach Bekanntgabe des Steuerbescheids, verstrichen sein, sodass die Einleitung nicht mehr möglich wäre. Um diese Verzögerung zu vermeiden, sieht § 354 Abs. 1a AO einen Rechtsbehelfsverzicht beschränkt auf diejenigen Besteuerungsgrundlagen vor, die im Verständigungs- oder Schiedsverfahren von Bedeutung sein können. Damit tritt insoweit Bestandskraft ein, sodass die Voraussetzungen für die Einleitung des internationalen Verfahrens erfüllt sind. Für das Gerichtsverfahren sieht § 50 Abs. 1a FGO eine insoweit beschränkte Klageerhebung vor. Entsprechend sieht § 362 Abs. 1a AO eine beschränkte Rechtsbehelfsrücknahme, § 72 Abs. 1a FGO eine insoweit beschränkte Klagerücknahme vor.

1.2 Rechtsentwicklung

 

Rz. 6

Die Regelung für internationale Verständigungs- und Schiedsverfahren ist durch Gese...

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