Rz. 101

Weitere Fälle, in denen der Eintritt eines Tatbestandsmerkmals Rückwirkung entfaltet, ergeben sich aus steuerrechtlichen Vorschriften (steuerliche Rückwirkung). Diese Rückwirkung tritt ein, wenn ein späteres Ereignis nach dem jeweiligen steuerlichen Tatbestand materielle Wirkung auf den Zeitpunkt der steuerlichen Tatbestandverwirklichung entfaltet. Bei diesen Fällen der steuerrechtlichen Rückwirkung ist es ohne Bedeutung, ob und in welchem Umfang zivilrechtlich Rückwirkung eintritt. Ein Beispiel für eine solche materielle Bindung ist § 20 Abs. 1 S. 3 EStG. Danach gehören Bezüge nicht zu den Einnahmen aus Kapitalvermögen nach § 20 EStG, soweit hierfür Beträge des steuerlichen Einlagekontos nach § 27 KStG als verwendet gelten. Tatbestandlich knüpft diese Regelung an die Feststellung des verwendbaren Eigenkapitals an. Diese Feststellung ist Grundlagenbescheid nur für die ausschüttende Körperschaft, nicht jedoch für die Besteuerung des Anteilseigners. Jedoch besteht auch für den Anteilseigner nach dem gesetzlichen Tatbestand eine materielle Bindung an die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos. Der Anteilseigner ist daher an die festgestellte Verwendung des verwendbaren Eigenkapitals bzw. an die festgeschriebene Verwendungsreihenfolge gebunden und kann bei der ESt-Veranlagung nicht mit Erfolg geltend machen, die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos sei falsch. Wird die Feststellung des verwendbaren Eigenkapitals bzw. die Verwendungsreihenfolge nachträglich geändert, handelt es sich für den ESt-Bescheid des Anteilseigners wegen der tatbestandlichen und materiellen Bindung um ein rückwirkendes Ereignis, das zur Änderung seiner Steuerfestsetzung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO führt.[1]

 

Rz. 102

Unter § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO fallen auch die Fälle einer steuerrechtlichen "auflösenden Bedingung". Es sind dies Fälle, in denen eine steuerrechtliche Folge, i. d. R. eine steuerliche Vergünstigung, durch Gesetz oder durch Verwaltungsakt von einem bestimmten Tatbestandsmerkmal in der Form abhängig gemacht wird, dass dieses Tatbestandsmerkmal eine bestimmte Zeit vorliegen muss (Dauerzustand). Die steuerliche Folge für einen Vz wird dann also davon abhängig gemacht, dass ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal noch eine gewisse Zeit nach Ende eines Vz besteht. Fällt es vor Ablauf dieser bestimmten Zeit weg, entfaltet dieser Wegfall Rückwirkung auf den fraglichen Vz, sodass sich die steuerliche Belastung für diesen Vz ändert. An sich fallen diese Fallgruppen bereits unter § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO; um jeden möglichen Zweifel auszuschließen, wurde diese Rechtsfolge in dem durch Art. 37 des 2. Haushaltsstrukturgesetzes v. 22.12.1981, BGBl I 1981, 1554 eingefügten Abs. 2 S. 1 ausdrücklich angeordnet; diese Regelung hat nur klarstellende Bedeutung. Von § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO erfasst werden aber nur Fälle, wenn durch das Ereignis der Dauerzustand verändert bzw. beendet wird und dies steuerlich Wirkung für alle Zeiträume des Dauerzustands hat. Kein rückwirkendes Ereignis liegt vor, wenn der Dauerzustand unverändert fortbesteht.[2]

Unter diese Vorschrift fallen folgende Fallgruppen[3]:

  • Verstoß gegen den Grundsatz der satzungsmäßigen Vermögensbindung, § 61 Abs. 3 AO: Nachversteuerung für 10 Jahre;
  • Überschreiten der 3-Jahres-Frist bzw. der Grenze von 15 % nach § 6 Abs. 1 Nr. 1a EStG für die Annahme von nachträglichen Herstellungskosten bei Anschaffung eines Gebäudes[4];
  • die aufgehobene Regelung für erhöhte Absetzung für Wirtschaftsgüter, die dem Umweltschutz dienen, § 7d Abs. 6 EStG: Bindung für 5 Jahre[5];
  • schädliche Handlungen bei der Steuerbegünstigung der vorgezogenen Abfindung nach § 14a Abs. 4 EStG[6];
  • Bewertungsfreiheit für Handelsschiffe usw., §§ 82f. Abs. 3 EStDV: Bindung für 8 Jahre; § 175 Abs. 2 S. 1 AO bestimmt ausdrücklich, dass insoweit ein rückwirkendes Ereignis vorliegt;
  • Anteilsveräußerung innerhalb von 5 Jahren nach einer Spaltung, § 15 Abs. 2 S. 4 UmwStG; auch insoweit bestimmt § 175 Abs. 2 S. 1 AO ausdrücklich, dass insoweit ein rückwirkendes Ereignis vorliegt;
  • Veräußerung von Anteilen bei der steuerbegünstigten Einbringung, § 22 Nr. 1, 2 UmwStG n. F.: Bindung für 7 Jahre; auch insoweit gilt die ausdrückliche Bestimmung des § 175 Abs. 2 S. 1 AO, dass insoweit ein rückwirkendes Ereignis vorliegt; Voraussetzung ist jedoch, dass die Veräußerung "nachträglich" erfolgt ist, also nach Erlass des zu ändernden Steuerbescheids[7];
  • vorzeitige Beendigung eines Ergebnisabführungsvertrags, § 14 Abs. 1 Nr. 3 S. 1 KStG: Bindung für 5 Jahre;
  • Die inzwischen weggefallene InvZul für betriebliche Investitionen, § 2 InvZulG: Bindung für 5 Jahre[8];
  • Ebenfalls in diese Gruppe gehören die Fälle der inzwischen ausgelaufenen Begünstigung nach § 10e EStG bzw. dem EigZulG. Die fehlende Eigennutzung ist ein rückwirkendes Ereignis und wirkt auf die Gewährung der Vergünstigung zurück[9];
  • Verstoß gegen die Behaltenspflicht bei der ErbSt.[10]

    § 175 Abs. 2 S. 1 AO bestimmt ausdrücklich, dass insoweit ein rückwirkendes Ereignis vorlieg...

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