Rz. 86

Anwendbar ist § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO regelmäßig in den Fällen, in denen ein Rechtsgeschäft, das steuerlich von Bedeutung ist, aufgrund bürgerlich-rechtlicher Vorschriften zivilrechtlich rückwirkend beseitigt wird.

 

Rz. 87

Rückwirkung entfaltet nach § 142 BGB die Anfechtung eines Rechtsgeschäfts; infolge einer wirksamen Anfechtung ist das Rechtsgeschäft als von Anfang an nichtig anzusehen. Allerdings liegt in der Anfechtung allein noch kein rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO. Die steuerliche Rückwirkung kann erst eintreten, wenn die Beteiligten endgültig das Geschäft nicht mehr durchführen und die gegenseitig ausgetauschten Leistungen zurückgewährt werden. Dazu gehört die Rückübertragung von Besitz, Nutzungen und Lasten. Soweit und solange die Beteiligten die wirtschaftlichen Folgen des angefochtenen Rechtsgeschäfts bestehen lassen, liegt trotz der zivilrechtlich rückwirkenden Anfechtung nach § 41 Abs. 1 S. 1 AO noch keine steuerliche Rückwirkung vor.[1] Das gilt grundsätzlich jedoch nur, wenn das Geschäft noch nicht von beiden Parteien voll erfüllt worden ist. In diesem Fall handelt es sich bei der Rückabwicklung um ein neues Geschäft, nicht um eine rückwirkende Beseitigung des ursprünglichen Geschäfts (Einzelheiten Rz. 92, 115). Zusätzlich ist zu beachten, dass bei Dauerrechtsverhältnissen (z. B. Personengesellschaft/Mitunternehmerschaft), die bereits wirksam geworden sind, eine Anfechtung auch zivilrechtlich keine Rückwirkung entfaltet, sondern die Rechtsverhältnisse nur mit Wirkung für die Zukunft vernichtet werden. Der soziale Tatbestand eines bereits verwirklichten Sachverhalts kann auch zivilrechtlich nicht rückwirkend beseitigt werden. Entsprechend ist in diesen Fällen auch steuerrechtlich keine Rückwirkung anzunehmen.[2]

 

Rz. 88

Ist ein Rechtsgeschäft zivilrechtlich nichtig, ist es trotzdem der Besteuerung zugrunde zu legen, wenn dieses Rechtsgeschäft von den Beteiligten als gültig behandelt wird.[3] Beruft sich dann jedoch ein Beteiligter auf die Nichtigkeit, muss das Geschäft zivilrechtlich und auch steuerrechtlich als von Anfang an nichtig behandelt werden. Hier ist dieses Handeln des Beteiligten ein Ereignis, das aufgrund der zivilrechtlichen Rechtslage wirtschaftliche und damit auch steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Die Steuerbescheide sind daher nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO zu ändern.[4]

 

Rz. 89

Zivilrechtliche Nichtigkeit kann eintreten bei Formmangel, § 125 BGB, bei Willensmängeln, §§ 116 Abs. 2, 117, 118 BGB, Geschäftsunfähigkeit, §§ 105ff. BGB, Sittenwidrigkeit, § 138 BGB, Anfechtung, § 142 BGB, Unmöglichkeit, § 275 Abs. 1 BGB, bei fehlender Ermächtigung zum Selbstkontrahieren, § 181 BGB, bei Fehlen der erforderlichen Zustimmung, §§ 1366, 1367, 1819-1822 BGB, oder bei Fehlen der Eintragung in öffentliche Bücher oder Register (z. B. Grundbuch). Zu beachten ist jedoch, dass die zivilrechtliche Nichtigkeit nicht immer auch steuerliche Folgen haben muss (hierzu Rz. 88).

 

Rz. 90

Nach der Rechtsprechung soll Rückwirkung auch bei einem (gerichtlichen) Vergleich der Parteien eintreten.[5] Dem ist für diejenigen Fälle zu folgen, in denen der Vergleich über eine Frage geschlossen wird, deren zivilrechtliche Rückwirkung auch steuerrechtlich anerkannt wird, z. B. bei einem Vergleich über die Wirkungen einer Anfechtung. Das gilt auch für einen Erbvergleich.[6] Ein Erbvergleich, der rückwirkend die Erbenstellung verändert, liegt jedoch nur vor, wenn er seinen Rechtsgrund im Erbrecht hat. Das ist der Fall, wenn durch den Vergleich die Ungewissheit über die Erbenstellung und die Höhe des Erbanteils beseitigt werden soll. Ein Erbvergleich mit steuerlicher Rückwirkung liegt danach nicht mehr vor, wenn es sich um Fragen der ordnungsgemäßen Verwaltung des Nachlasses im Falle der Vorerbeschaft und daraus resultierende Schadensersatzansprüche des Nacherben handelt.[7] Eine Rückwirkung kann auch dadurch eintreten, dass ein gerichtlicher Vergleich ein gerichtliches Urteil ersetzt, das Rückwirkung hätte; allerdings werden diese Fälle kaum vorkommen, da gerichtliche Gestaltungsurteil (hierzu Rz. 99) nicht durch einen Vergleich ersetzt werden können.[8] Im Übrigen beseitigt ein Vergleich lediglich den Streit oder die Ungewissheit der Vertragsparteien über ein Rechtsverhältnis, bezieht sich also nur auf dessen rechtliche Beurteilung. Der Vergleich gestaltet daher den Lebenssachverhalt nicht rückwirkend anders. Er stellt also kein rückwirkendes Ereignis dar.[9]

 

Rz. 91

Ohne unmittelbare steuerliche Folgen sind die Fälle der relativen Unwirksamkeit.[10] In diesen Fällen ist das Rechtsgeschäft grundsätzlich wirksam, nur einer bestimmten Person gegenüber unwirksam. Zu steuerlichen Konsequenzen kommt es erst, wenn die relative Unwirksamkeit zivilrechtliche Folgen hat, etwa ein (relativ unwirksam) erworbener Gegenstand aufgrund der relativen Unwirksamkeit an den tatsächlich Berechtigten herausgegeben werden muss.

 

Rz. 92

Nacherfüllung[11] und Rücktritt[12] entfalten zivilrechtlich keine Rü...

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