Rz. 236

Problematisch ist, inwieweit eine Änderung oder Aufhebung einer Steuerfestsetzung nach § 174 Abs. 15 AO erfolgen kann, wenn diese Steuerfestsetzung bereits durch ein rechtskräftiges finanzgerichtliches Urteil bestätigt worden ist.

 
Praxis-Beispiel

Über die ESt-Veranlagung des Jahres 01 ist ein finanzgerichtliches Urteil ergangen; gestritten worden ist über Sonderausgaben. Bei der Veranlagung des Jahres 02 stellt die Finanzbehörde fest, dass eine in 01 erfasste Betriebseinnahme im Jahr 02 zu erfassen gewesen wäre.

Die Lösung der Frage, ob eine gerichtlich bestätigte Steuerfestsetzung noch nach § 174 AO geändert werden kann, hängt von dem Begriff des Streitgegenstands ab. Soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, tritt aufgrund der gerichtlichen Entscheidung Rechtskraft ein, die nicht mehr, auch nicht aufgrund des § 174 AO, durchbrochen werden kann.

 

Rz. 237

Zu dem Verhältnis der Rechtskraft eines gerichtlichen Urteils zu den Änderungsvorschriften vgl. grundlegend § 132 AO Rz. 5ff. Die dort vertretene Ansicht über die durch § 110 Abs. 2 FGO eingeschränkte Rechtskraftwirkung gerichtlicher Urteile führt für § 174 AO zu den nachstehend dargestellten Ergebnissen.

 

Rz. 238

Ist eine Steuerfestsetzung rechtskräftig bestätigt worden und stellt sich später heraus, dass sie i. S. d. § 174 AO unrichtig ist (d. h. die unrichtige von zwei widerstreitenden Steuerfestsetzungen ist), kann sie trotz der Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils geändert werden, es sei denn, dass dem finanzgerichtlichen Verfahren gerade der Sachverhalt zur Entscheidung unterbreitet worden war, der sich jetzt als unrichtig behandelt herausstellt. Die Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils bezieht sich nur auf den konkreten Streitgegenstand, über den entschieden worden ist. Einer rechtskräftigen Entscheidung steht es gleich, wenn der Rechtsstreit zugunsten des Stpfl. durch übereinstimmende Erklärungen der Parteien erledigt ist.[1] Auch die Beiladung eines Dritten nach Abs. 5 hat zu unterbleiben, wenn ihm gegenüber die Sache rechtskräftig entschieden ist.[2] Keine Entscheidung in der Sache liegt dagegen vor, wenn das FG es ablehnt, selbst die Änderung nach § 174 AO vorzunehmen, weil dadurch gegen das finanzgerichtliche Verböserungsverbot verstoßen würde. In diesem Fall hat das FG nicht über die Sache entschieden, sondern eine Entscheidung gerade abgelehnt.[3]

 

Rz. 238a

Die Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils verhindert die Änderung daher dann, wenn gerade die Frage, um die es bei der widerstreitenden Steuerfestsetzung geht, vom FG entschieden worden ist. Ist danach eine Änderung der unrichtigen Steuerfestsetzung nicht mehr möglich, ist die doppelte Erfassung des gleichen Sachverhalts in Kauf zu nehmen.

 
Praxis-Beispiel

Bei der ESt-Veranlagung 01 ist eine Einnahme erfasst worden; über die Frage, ob diese Einnahme dem Jahr 01 zuzuordnen ist, wurde ein Rechtsstreit geführt, in dem das FG die Zuordnung zu dem Jahr 01 bestätigt hat.

Bei der Veranlagung 02 stellt sich heraus, dass die Einnahme doch dem Jahr 02 zuzuordnen ist. Die Einnahme muss nun auch im Jahr 02 erfasst werden, da die Rechtskraft des Urteils für 01 nicht für die Veranlagung 02 bindet. Andererseits ist eine Änderung der Veranlagung 01 nach § 174 Abs. 1 AO wegen der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung nicht möglich.

Eine Lösung könnte nur ein Erlass der Steuer, §§ 163, 227 AO, bringen; doch dürfte zweifelhaft sein, ob die Voraussetzungen dieser Vorschriften vorliegen. Die doppelte Heranziehung beruht nämlich auf dem Prinzip der Rechtskraft; wenn der Gesetzgeber ab einem bestimmten Verfahrenszeitpunkt die Unabänderlichkeit einer Steuerfestsetzung anordnet, nimmt er damit zugunsten der Rechtssicherheit in Kauf, dass die Steuerfestsetzung unrichtig und nicht mehr korrigierbar ist. Sachliche Unbilligkeit wird daher regelmäßig nicht vorliegen; eine Billigkeitsmaßnahme aus Gründen der persönlichen Unbilligkeit ist dagegen möglich.

 

Rz. 239

Soweit nach § 174 AO die Festsetzungsfrist durchbrochen und trotz ihres Ablaufs eine Steuerfestsetzung erlassen oder geändert wird, stehen dem Stpfl. auch alle Rechtsbehelfe und Rechtsmittel offen. Die Finanzverwaltung kann sich in diesen Fällen nicht etwa auf den Ablauf der Festsetzungsfrist berufen; für das Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelverfahren ist insoweit die Festsetzungsfrist ohne Bedeutung. Das gilt aber nur, soweit die Änderung betragsmäßig reicht. Entgegen § 367 Abs. 2 AO ist eine Verböserung nicht möglich, soweit die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.

 
Praxis-Beispiel

Ein Steuerbescheid wird nach § 174 AO nach Ablauf der Festsetzungsfrist von 10.000 EUR auf 15.000 EUR erhöht. Gegen die Erhöhung um 5.000 EUR kann der Stpfl. trotz Ablaufs der Festsetzungsfrist Einspruch einlegen mit dem Ziel, dass die ursprüngliche Steuerfestsetzung bestehen bleibt. Die Finanzbehörde kann aber nicht über 15.000 EUR hinaus verbösern, da insoweit der Ablauf der Festsetzungsfrist entgegensteht und die Änderungsbefugnis nach § 174 AO soweit n...

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