Rz. 173

Es sind alle aus dem streitigen Sachverhalt fließenden Folgerungen zu ziehen; eine Unvereinbarkeit i. S. d. Kollision der Regelungsbereiche von Steuerbescheiden, wie bei Abs. 1-3, braucht nicht vorzuliegen. Die Finanzbehörde ist auch bei dem Erlass des Änderungsbescheids nicht an die in dem ursprünglichen Steuerbescheid vertretene Auffassung gebunden. Es kann daher, unabhängig von dem ersten Bescheid, aus dem Sachverhalt die richtigen Rechtsfolgen ziehen. Sie braucht dabei nicht dieselben Vorschriften anzuwenden wie in dem ersten Bescheid, noch müssen die Rechtsfolgen gleich sein oder zu einer gleichen Belastung führen.[1]

Die Änderung des zweiten Bescheids muss "nachträglich" erfolgen, also nach der Änderung des ersten Bescheids. Das Merkmal "nachträglich" gehört zum Tatbestand, nicht zur Rechtsfolge; vgl. daher Rz. 145.

 

Rz. 174

Aus der Verwendung des Ausdrucks "können … durch Erlass oder Änderung …" ist zu schließen, dass die Änderung im Ermessen der Verwaltung steht; vgl. Rz. 125a. Die Rechtsprechung[2] vertritt jedoch die Ansicht, dass aus § 174 Abs. 4 AO keine Ermessensleitlinien abgelesen werden können. Daher sei der Begriff "können" nicht als Ermessensbegriff, sondern als rechtliches Können aufzufassen. Da die Verwaltung an den Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Besteuerung gebunden ist, bedeutet dies für die Finanzbehörde eine Verpflichtung zur Änderung. Praktisch dürfte der Unterschied dieser Ansicht zu der Annahme eines Ermessensbegriffs gering sein, da angesichts des Grundsatzes der Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung i. d. R. eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegen wird.

 

Rz. 175

Die Anwendung des Abs. 4 wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass aufgrund dieser Änderungsvorschrift letztlich mehr Steuern von dem Stpfl. verlangt werden als ohne seinen Antrag bzw. Rechtsbehelf. Voraussetzung ist nur, dass der angefochtene Steuerbescheid zugunsten des Stpfl. geändert wurde, nicht aber, dass der ganze Vorgang letztlich zugunsten des Stpfl. wirkt bzw. dass die Änderung dem Antrag des Stpfl. entspricht. Ein "Verböserungsverbot" gibt es bei Abs. 4 nicht.[3] Das gerichtliche Verböserungsverbot bezieht sich nur auf den Streitgegenstand, nicht auf etwaige Folgewirkungen. Damit müssen sich die für den Stpfl. günstige Änderung und die Folgeänderung nach Abs. 4 betragsmäßig nicht entsprechen. Ein Verböserungshinweis dahingehend, dass die Änderung zu einer letztlich ungünstigen Folgeänderung führen kann, ist nicht erforderlich. Streitgegenstand ist nur der erste Bescheid, der zugunsten des Stpfl. geändert wird, insoweit also keine Verböserung eintritt.

 

Rz. 176

Bei Vorliegen des Tatbestands des Abs. 4 sind aus dem Sachverhalt "die richtigen steuerlichen Folgen" durch Erlass oder Änderung der Steuerfestsetzung zu ziehen. Das bedeutet, dass alle Fehler der ursprünglichen Steuerfestsetzung, soweit sie mit dem irrig beurteilten Sachverhalt zusammenhängen, berichtigt werden können. Bei Erlass oder Änderung des Steuerbescheids nach Abs. 4 tritt also, soweit der irrig beurteilte, bestimmte Sachverhalt betroffen ist, keine Bindung an die ursprüngliche Steuerfestsetzung ein. Das FA ist daher auch nicht an eine unrichtige Sachverhaltswürdigung oder unrichtige Rechtsauffassung in dem ursprünglichen Bescheid gebunden, auch nicht, wenn insoweit Bestandskraft eingetreten ist.[4]

 

Rz. 177

Abs. 4 ermöglicht jedoch nicht jede Anpassung an einen geänderten Steuerbescheid, sondern nur das Ziehen der richtigen steuerlichen Folgerungen "aus dem Sachverhalt". Entscheidend ist, dass aus demselben Sachverhalt andere steuerliche Folgen in einem anderen Steuerbescheid zu ziehen sind. Die Bewertung des Sachverhalts in dem auf Antrag des Stpfl. geänderten Bescheid muss unmittelbar Auswirkungen auf die steuerliche Behandlung dieses gleichen Sachverhalts in einem anderen Vz haben.[5]"Sachverhalt" ist der maßgebliche Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Beurteilung zugrunde zu legen ist nicht die einzelne steuererhebliche Tatsache oder das einzelne Merkmal, sondern der einheitliche Sachverhaltskomplex. Mehrere Sachverhaltselemente bilden einen solchen einheitlichen Lebensvorgang bzw. Sachverhaltskomplex, wenn die betreffenden Sachverhaltselemente einen inneren Zusammenhang aufweisen.[6]

Es muss der gleiche Sachverhalt vorliegen, dessen Behandlung in einem Steuerbescheid geändert worden ist. Es muss sich also um die irrige Beurteilung von Merkmalen materieller oder immaterieller Art handeln, die zu einem gesetzlichen Tatbestand gehören. Der "bestimmte Sachverhalt" ist dabei nicht die einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal, sondern der einheitliche, für die Besteuerung maßgebliche Sachverhaltskomplex.[7]

 

Rz. 177a

Es muss daher der Sachverhalt in beiden Steuerbescheiden im Wesentlichen gleich sein. Dagegen ist nicht erforderlich, dass auch die Rechtsfolgen oder die betroffenen Steuerarten gleich oder vergleichbar sind. So bildet die Tätigkeit des Stpfl. in ihren steuerlich relevanten Merkmalen ...

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