Rz. 37

Der bestimmte Sachverhalt muss in mehreren Steuerbescheiden berücksichtigt worden sein, um § 174 AO anwenden zu können. § 174 AO setzt also zwei (oder mehr) Steuerbescheide voraus.[1] Ist eine Besteuerungsgrundlage in einem Bescheid mehrfach erfasst worden, ist Abs. 1 nicht anwendbar.

Der Sachverhalt kann in zwei Steuerbescheiden gegenüber demselben Stpfl., aber auch in zwei Steuerbescheiden gegen verschiedene Stpfl. berücksichtigt sein.[2] Maßgebend für die Anwendung des § 174 Abs. 1 AO ist nur, dass diese mehrfache Berücksichtigung "unvereinbar" ist.

 

Rz. 37a

Die Vorschrift setzt das Vorliegen von Steuerbescheiden voraus. Steuerbescheid in diesem Sinn sind alle Verwaltungsakte, denen das Gesetz die Qualifikation eines Steuerbescheids zuerkennt. Daher sind auch Steueranmeldungen nach § 168 AO Steuerbescheide. Nicht anwendbar ist die Vorschrift dagegen auf Haftungsbescheide. Erfolgt dagegen eine Steuerfestsetzung, weil der Haftungsschuldner keine Steueranmeldung abgegeben hat, oder erkennt er seine Zahlungspflicht schriftlich an, handelt es sich nach § 167 Abs. 1 S. 1, 3 AO um Steuerbescheide, auf die § 174 AO wendbar ist, auch wenn es sich materiell um eine Haftungsschuld handelt.[3]

 

Rz. 38

Da nur auf das Vorliegen mehrerer Steuerbescheide[4] abgestellt wird, kann sich eine widerstreitende Steuerfestsetzung auch im Verhältnis zwischen Grundlagen- und Folgebescheid ergeben.[5] Die Besteuerungsgrundlage gehört nicht zum Regelungsbereich des Folgebescheids in dem Sinn, dass dort eine eigenständige Regelung erfolgen kann. Die Regelungsbereiche von Grundlagen- und Folgebescheid können also durchaus in unvereinbarer Weise kollidieren.

 

Rz. 39

A. A. ist jedoch BFH v. 28.9.2009, IV B 99/08, BFH/NV 2010, 167, wonach im Verhältnis von Grundlagen- zu Folgebescheid eine widerstreitende Steuerfestsetzung nicht vorliegen könne, weil der Folgebescheid unbedingt an den Grundlagenbescheid gebunden sei. Wenn der Folgebescheid dem Grundlagenbescheid widerstreite, habe eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO zu erfolgen, da der Folgebescheid so lange zu ändern sei, bis er dem Grundlagenbescheid entspreche.[6]

 

Rz. 40

M. E. ist dieser Ansicht des BFH aaO in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen.[7] Wenn die unrichtige Erfassung in dem Folgebescheid außerhalb des Bereichs erfolgt, für den nach § 182 AO eine Bindungswirkung an den Grundlagenbescheid ergibt, kann § 174 AO anwendbar sein. Nur im Rahmen der Bindungswirkung des § 182 AO kann eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO vorrangig sein.

 
Praxis-Beispiel

In dem Grundlagenbescheid ist eine Einnahme als Sonderbetriebseinnahme im Rahmen einer Personengesellschaft, an der der Ehemann beteiligt ist, erfasst. Im Folgebescheid wird diese Einnahme dem Einzelgewerbebetrieb der Ehefrau zugerechnet und daher steuerlich nochmals berücksichtigt.

M. E. besteht keine Bindungswirkung des Feststellungsbescheids gegenüber der Ehefrau, daher ist eine Änderung des Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht möglich. In Betracht kommt aber eine Änderung wegen widerstreitender Steuerfestsetzung.

 

Rz. 41

"Mehrere Steuerbescheide" sind auch die gegen Gesamtschuldner gerichteten Steuerbescheide, die nach § 155 Abs. 2 zusammengefasst sind.[8] Daher kann eine widerstreitende Steuerfestsetzung grundsätzlich auch im Verhältnis dieser zusammengefassten Steuerbescheide zueinander vorliegen. Zu beachten ist jedoch, dass es dem Wesen der Gesamtschuld entspricht, dass die Steuer wegen des gleichen Sachverhalts gegen jeden der Gesamtschuldner festgesetzt wird; insofern stellt eine mehrfache Berücksichtigung des gleichen Sachverhalts gegenüber mehreren Gesamtschuldnern keine "widerstreitende" Steuerfestsetzung dar.

 

Rz. 42

"Berücksichtigt" bedeutet, dass der Sachverhalt einer Steuerfestsetzung zugrunde gelegen hat und die steuerlichen Folgen aus diesem Sachverhalt in dieser Steuerfestsetzung gezogen worden sind. Der Sachverhalt ist daher "berücksichtigt", wenn er der Finanzverwaltung bekannt war und bei Ermittlung des Einkommens einbezogen worden ist.[9]"Nichtberücksichtigung" eines Sachverhalts steht nach dem Wortlaut der Vorschrift der (positiven) Berücksichtigung nicht gleich. Wird also ein Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden nicht berücksichtigt, obwohl er in einem von ihnen hätte berücksichtigt werden müssen, ermöglicht dies nicht die Änderung nach Abs. 1.[10] Erfasst wird diese Fallgruppe von Abs. 3.

 

Rz. 43

"Berücksichtigt" ist ein Sachverhalt dann, wenn er Eingang in die Bilanz oder Steuererklärung des Stpfl. gefunden hat und die Bilanz bzw. die Steuererklärung bei der Steuerfestsetzung zugrunde gelegt wurde. Bei einer Schätzung ist der Sachverhalt berücksichtigt, wenn er in die Entscheidungsüberlegungen des FA Eingang gefunden hat.

 
Praxis-Beispiel

Das FA schätzt den Gewinn anhand der angemeldeten Umsätze. Eine Einnahme, die in diesen Umsätzen enthalten ist, ist im Rahmen der Gewinnschätzung "berücksichtigt".

Bei einer pauschalen Schätzung ist ein Einzelsachverhalt jedoch nicht "berücksichtigt" i. d. S....

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