Rz. 108

Der maßgebliche Zeitpunkt für das Bekanntwerden neuer Tatsachen richtet sich nach dem der letzten sachlichen Prüfung des Steuerbescheids. Ein Änderungsbescheid tritt in verfahrensrechtlicher Hinsicht an die Stelle des ursprünglichen Bescheids. Daher müssen in ihm alle bekannten oder als bekannt geltenden Tatsachen verwertet werden. Tatsachen und Beweismittel, die bei der abschließenden Zeichnung des Änderungsbescheids schon vorhanden waren, aber nicht berücksichtigt wurden, berechtigen nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr zur Korrektur nach[1] Das gilt immer dann, wenn die Änderung des ursprünglichen Steuerbescheids eine sachliche Prüfung erfordert. Dann ist das FA gehalten, im Rahmen dieser sachlichen Prüfung auch die vorliegenden neuen Tatsachen, die andere Besteuerungsgrundlagen betreffen als die, die Anlass für die Änderung sind, zu berücksichtigen. Nach § 88 Abs. 1 S. 1 AO darf die Finanzbehörde keinen Steuerbescheid, auch keinen Änderungsbescheid erlassen, der nach den bei ihr vorliegenden oder als bekannt geltenden Tatsachen unrichtig ist. Das gilt für alle Änderungsbescheide, für die eine sachliche Prüfung zu erfolgen hat, also für Änderungen nach §§ 164, 172, 173, 174, 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO und entsprechende Änderungstatbestände nach anderen Steuergesetzen.[2] Die Finanzbehörde muss auch eine umfassende Prüfung durchführen, wenn der Steuerfall mit einem Prüfhinweis versehen an den Bearbeiter zurückgelangt. Der Bearbeiter muss dann nicht nur dem Prüfhinweis nachgehen, sondern die sich aus den Akten ergebenden neuen Tatsachen berücksichtigen, auch wenn sie nicht die Besteuerungsgrundlagen betreffen, auf die sich der Prüfhinweis bezieht.[3] Die im Zeitpunkt einer solchen nach § 88 AO erforderlichen umfassenden Prüfung des Steuerbescheids vorliegenden Tatsachen müssen verwertet werden, da sie sonst bei einer späteren Änderung nicht mehr "neu" sind.

Der Gegenauffassung argumentiert, dass bei einer punktuellen Änderung wegen des Wegfalls der "Gesamtaufrollung" in der AO 1977 das FA bei einer Änderung keine erneute Prüfung des gesamten Steuerfalls vornehmen müsse. Dies würde Änderungen der Steuerfestsetzung nach §§ 172, 173, 174 und § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO betreffen.[4]

Dem wird nicht gefolgt. Es handelt sich nicht um eine Frage der Gesamtaufrollung, sondern darum, ob von dem FA erwartet werden kann, dass es nach § 88 AO den Steuerfall überprüft und vorhandene neue Tatsachen verwertet, wenn wegen einer anderen Änderung eine sachliche Prüfung erfolgen muss.

 

Rz. 109

Erfordert § 88 AO dagegen keine umfassende Prüfung oder überhaupt keine selbständige Prüfung, verlieren nicht berücksichtigte, zu diesem Zeitpunkt aber bereits bekannte Tatsachen nicht die "Neuheit".[5] Grund hierfür ist, dass bei einer solchen Änderung kein Anlass besteht, in eine erneute Prüfung einzutreten, sondern nur mechanisch gewisse Änderungen nachzuvollziehen sind. Das ist der Fall bei Ergehen eines erstmaligen oder geänderten Grundlagenbescheids nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO. Der Inhalt des Grundlagenbescheids ist in den Folgebescheid ohne weitere Prüfung zu übernehmen, sodass sich kein Anlass für eine sachliche Prüfung des Folgebescheids ergibt. Liegen daher bei der Änderung des Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO neue Tatsachen vor und ergeht ein Änderungsbescheid, bei dem die neuen Tatsachen nicht berücksichtigt werden, kann anschließend noch eine Änderung nach § 173 AO erfolgen. Die Folgeänderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO erfolgt ohne sachliche Prüfung, wenn ein Grundlagenbescheid erlassen oder geändert wird; die vor der Folgeänderung aufgetretenen Tatsachen sind also weiterhin "neu".[6] Eine entsprechende Situation besteht bei einer Änderung nach § 175a AO bei der Umsetzung einer Verständigungsvereinbarung. Dieser Änderungstatbestand ähnelt § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 insofern, als lediglich der Inhalt der Verständigungsvereinbarung ohne sachliche Prüfung umzusetzen ist. Auch bei einer Änderung nach § 175b AO erfolgt lediglich die Übernahme der von einer dritten Stelle übermittelten Daten. Es besteht daher nach § 88 AO kein Anlass zu einer erneuten Prüfung des gesamten Steuerfalls. Gleiches gilt, wenn durch den Änderungsbescheid lediglich ein Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 AO aufgenommen wird. Auch dann ist nach § 88 AO kein Eintritt in eine sachliche Prüfung angezeigt. Auch § 165 Abs. 2 AO ermöglicht nur eine punktuelle Überprüfung des Steuerfalls, da diese Vorschrift nur gilt "soweit" die Finanzbehörde die Steuer vorläufig festgesetzt hat. Nach § 88 AO ist daher bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nicht erforderlich, den gesamten Steuerfall zu überprüfen; die Änderung ist auf die beseitigte Ungewissheit beschränkt. Zu dem Zeitpunkt dieser Änderungsveranlagung bekannte Tatsachen bleiben als "neu".[7]

Der BFH (a. a. O.) hat dies zwar ausdrücklich nur für den Fall entschieden, dass die Änderung des Bescheids nach Wegfall der Unsicherheit im maschinellen Verfahren erfolgt ist, ohne dass der Sa...

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