Rz. 42

Nach Abs. 1 S. 2 Nr. 3 kann die Steuerfestsetzung vorläufig ergehen oder ausgesetzt werden, wenn die Vereinbarkeit einer für die Steuerfestsetzung anzuwendenden Vorschrift mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Gerichtsverfahrens ist. Es muss die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht (GG, europäisches Recht) infrage stehen. Diese Vereinbarkeit muss Gegenstand eines Verfahrens vor dem BVerfG, dem EuGH oder einem obersten Bundesgericht (i. d. R. dem BFH) sein. Diese Regelung ermöglicht die Führung von Musterprozessen; die Einwirkung der Musterentscheidung auf alle betroffenen Steuerfälle wird durch die Vorläufigkeit sichergestellt. Dagegen genügt die bloße Möglichkeit, dass ein solches Verfahren in Zukunft eingeleitet wird, nicht.[1]

 

Rz. 43

Das Verfahren vor dem EuGH, BVerfG oder BFH muss im Zeitpunkt, zu dem der Steuerbescheid ergeht, der vorläufig sein soll, bereits anhängig sein.[2] Ein nur erwartetes Verfahren dieser Art kann die Vorläufigkeit nicht begründen, und zwar auch nicht, wenn bereits das Vorverfahren oder ein Verfahren vor dem FG eingeleitet worden ist mit der Absicht, diese Rechtsfrage bis zum EuGH, dem BVerfG oder dem BFH weiter zu betreiben. Anhängig ist das Verfahren, wenn ein Gericht die Sache dem EuGH oder dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt hat, wenn wirksam Verfassungsbeschwerde zum BVerfG oder Revision zum BFH eingelegt worden ist. Eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH macht die Sache nicht "anhängig" i. d. S.; dies ist erst mit Zulassung der Revision der Fall.

 

Rz. 44

Die Vorläufigkeit erstreckt sich nur auf die Frage der Wirksamkeit der angegriffenen Norm, nicht auf damit zusammenhängende weitergehende Fragen der Anwendung und der Auslegung einfachen Gesetzesrechts.[3]

 

Rz. 45

Hinsichtlich des Umfangs der Vorläufigkeit unterscheidet die Rechtsprechung nach dem Wortlaut des Vorläufigkeitsvermerks. Lautet der Vermerk, dass der Bescheid vorläufig ist "hinsichtlich der anhängigen Verfassungsbeschwerden" oder ähnlich, muss das Verfahren vor dem BVerfG bei Ergehen des vorläufigen Steuerbescheids bereits anhängig sein; es genügt nicht, dass aufgrund von Entscheidungen anderer als der genannten Gerichte ein solches Verfahren als wahrscheinlich oder sicher erscheint.[4] Ein erst nach Ergehen des Bescheids bei EuGH, BVerfG oder BFH anhängig gewordenes Verfahren rechtfertigt dann nicht die Vorläufigkeit. In diesen Fällen kann ein Vorläufigkeitsvermerk nur erfolgen, wenn entweder der Bescheid, dessen Vorläufigkeit infrage steht, nach Anhängigkeit des Verfahrens erlassen worden ist, oder der ursprüngliche Bescheid vor Anhängigwerden ergangen war, danach aber ein Änderungsbescheid ergeht und hinsichtlich des Vorläufigkeitsvermerks ein Änderungstatbestand verwirklicht ist, sodass der Vorläufigkeitsvermerk nachträglich beigefügt werden kann. So kann ein Vorläufigkeitsvermerk einer Steuerfestsetzung, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung vorgenommen wurde, durch Änderung dieser Steuerfestsetzung beigefügt werden, wenn nach dem Ergehen der Steuerfestsetzung ein entsprechendes Verfahren anhängig wurde.

 

Rz. 46

Bezieht sich der Vorläufigkeitsvermerk nicht auf ein bestimmtes Verfahren, sondern wird der Steuerbescheid hinsichtlich bestimmter Besteuerungsgrundlagen für vorläufig erklärt, ist die Vorläufigkeit nicht beschränkt auf die bei Ergehen des Bescheids bereits anhängigen Verfahren, sondern bezieht auch Verfahren ein, die später, aber innerhalb der zeitlichen Geltungsdauer des Vorläufigkeitsvermerk, hinsichtlich der in den Vorläufigkeitsvermerk aufgenommenen Besteuerungsgrundlagen eingeleitet werden. Wird das ursprüngliche Verfahren beendet, bleibt der Vorbehalt bestehen, wenn bis zu dem Zeitpunkt der Aufhebung des Vorbehalts ein neues Verfahren hinsichtlich der vorläufig berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen eingeleitet worden ist. Wird der Vorbehalt trotz Entscheidung in dem ursprünglichen Verfahren nicht aufgehoben, bleibt der Vorbehalt bestehen, wenn innerhalb des Laufs der Festsetzungsfrist, d. h. bis zum Ende der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 8 AO, ein neues Verfahren eingeleitet worden ist.[5]

 

Rz. 47

Ob die Steuerfestsetzung wegen eines anhängigen Verfahrens für vorläufig erklärt wird, entscheidet die Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen. Das BMF hat als Ermessensrichtlinie angeordnet, dass Steuerfestsetzungen wegen eines anhängigen Verfahrens nur dann vorläufig vorzunehmen sind, wenn und soweit das BMF oder die obersten Finanzbehörden der Länder dies angewiesen haben.[6] Dies ist angesichts der Breitenwirkung der Verfahren sachgemäß, um eine einheitliche Behandlung dieser Fälle zu erreichen. Die Ermessensrichtlinie hält sich daher im Rahmen des Ermessens nach § 5 AO. Ein Rechtsanspruch des Stpfl. auf Vorläufigkeit aus einer Ermessensreduzierung auf Null besteht nicht, da offen ist, ob es zu einer für den Stpfl. günstigen Entscheidung kommen wird; das unterscheidet diesen Fall von denen des Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 2.

 

Rz. 48

Entsprechende Verfahren vor einem anderen Gericht als dem EuGH...

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